Hochherrschaftliche Skulpturengruppen, verwitterte Marmorgräber: wer durch die Pforte des Cimitero Staglieno tritt, den erwartet ein ganz besonderes Museum des 19. Jahrhunderts. Die Stuttgarter Lyrikerin Susanne Stephan besucht die Totenstadt.

Stuttgart - Ich wollte auf keinen Friedhof. Ich war zu oft auf Friedhöfen gewesen, hatte zu viele Beerdigungen erlebt in letzter Zeit. Wenn ich vom Küstenort Bogliasco, wo ich einen Monat in einer Künstlerresidenz verbringen durfte, ins nahe Genua fuhr, dann, um die Museen der Strada Nuova zu besuchen oder um zickzack durch das Labyrinth von Europas größter Altstadt zu laufen, vorbei an äthiopischen Schnellimbissen, Call- Shops und kleinen Läden, wo man mir eine schlichte Versandtasche noch vorsichtig rollte und in Papier einschlug – bis zum alten Hafen, zum berühmten Aquarium, in dessen Halbdunkel ich mit durchgestylten deutschen Kreuzfahrttouristen vor hintersinnig lächelnden Delfinen stand.

 

Ein Mitstipendiat jedoch, ebenfalls Autor, hat insistiert: ich müsste!, und so fuhr ich an meinem letzten Tag doch zum Cimitero Staglieno, nahm vom Bahnhof Brignole den Bus, der dem Fluss Bisagno folgt. In dessen Bett stapelte sich noch das Treibgut von den Überschwemmungen der Woche davor, die in Ligurien, auch in Genua, mehrere Menschen das Leben gekostet hatten.

Die Glocke kündet vom neuen Bewohner der Totenstadt

Ein milder Novembertag. Vor dem Portal ein Blumenkiosk neben dem anderen und eine gut besuchte Bar. Zahlreiche Leichenwagen, Marke Mercedes, silbrig-kupferfarben, mit landeseigener Variation: ein Fensterband im Heck erlaubt den Blick auf Kränze und Sarg. Einer nach dem anderen bewegt sich im Schritttempo und mit gemessenem Abstand durchs Portal. Eine Glocke kündigt an, dass die Totenstadt einen neuen Bewohner aufnimmt, denn es handelt sich um eine Stadt: mit verschiedenen Vierteln, protestantischen, griechisch-orthodoxen, jüdischen, muslimischen und großzügigen Kolonnaden voller prächtiger Grabmäler für jene, die in der Innenstadt ihre Paläste in der Strada Nuova, der heutigen Via Garibaldi, oder der Via Balbi errichtet hatten. Die Nekropole genießt eine Weiträumigkeit, die man sonst an dieser Küste nicht kennt, wo die Häuser sich auf einem schmalen Streifen aneinanderdrängen und selbst in einem wohlhabenden Vorort wie Bogliasco beinahe überall der Lärm von Schnellstraße oder Bahnlinie zu hören ist. Nichts von dem in Staglieno. Dafür das wahrscheinlich größte Freilichtmuseum für Skulpturen des 19. Jahrhunderts – vom Klassizismus über Realismus bis Jugendstil –, in dem man fast allein unterwegs ist und an drei Tagen nicht in alle Bereiche gelangt. Mark Twain, der sich auf seiner ersten Europareise in Genua aufhielt, berichtet: „Mein letzter Besuch war dem Friedhof bestimmt . . . An diesen Ort werde ich mich erinnern, wenn ich die Paläste vergessen habe.“

Twain besuchte den Cimitero Staglieno im Jahr 1869, keine zwanzig Jahre nach der Eröffnung, als die Statuen, die beinahe jedes der Grabmäler aus jener Zeit schmücken, noch „neu und schneeweiß“ waren, „voller Anmut und Schönheit“. Heute bemerkt man überall die Spuren der Zeit. Die Stadt kommt nicht nach mit Bestandssicherung und Restaurierung, zahlreiche Areale sind dem Verfall preisgegeben.

Galerien für den Adel, Kolumbarien fürs gemeine Volk

Geplant wurde Staglieno, der die Friedhöfe in der Innenstadt ersetzen sollte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Genueser Architekten Carlo Barabino, der bereits in der Innenstadt klassizistische Akzente gesetzt hatte. Als er 1835, kurz nach Projektbeginn, Opfer einer Cholera-Epidemie wurde, führte Giovanni Battista Resasco seine Pläne weiter, mit einigen Unterschieden; so wurde anstelle einer pyramidenförmigen Kapelle ein prunkvolles Pantheon errichtet. Bei der Einweihung 1851 war die Anlage noch lange nicht zu Ende gebaut.

Dem Adel und dem wohlhabenden Bürgertum blieben die Galerien rund ums Pantheon und die Kolonnaden im vorgelagerten monumentalen Vierecksbau vorbehalten – endlose Wandelgänge, bei denen ich an Walter Benjamins geschichtsphilophische Studie über die Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts denken muss: die einen wie die anderen steingewordenen Träume einer Epoche.

Es dominiert der bürgerliche Realismus

Dem gemeinen Volk waren die Kolumbarien – übereinanderliegende Grabkammern – in der zweiten Etage zugedacht. Einfache Leute tauchen auch in den marmornen Denkmälern des Bürgertums auf: als Danksagende. Die ärmlichen Schuhe des knienden blinden Mannes, die groben wollenen Strümpfe des Waisenkindes sind präzis wiedergegeben wie auch die Spitzen am Ärmelsaum der „Herrschaft“. Der Klassizismus ist mit wenigen Beispielen vertreten, so mit dem Symbol der abgebrochenen Säule, es dominiert der bürgerliche Realismus: Auf dem englischen Friedhof steht der Ingenieur Benjamin Whitehead stolz neben einer Werkbank, im Sockel ein Maschinenteil, das er selbst entwickelt hat, vom Künstler Lorenzo Orengo nahezu emblematisch in Marmor gehauen. Wirtschaftlicher Erfolg, familiärer Zusammenhalt und „charity“ erscheinen als Schutz gegen die Unwägbarkeiten des Schicksals. Am oft reproduzierten Grabmal, das Augusto Rivalta für Carlo Raggio entwarf und ausführte, ist die ganze Familie um das Totenbett versammelt, in akribisch ausgearbeiteten Kleidern, mit allen Rüschen, Ohrringen, Haarlocken – als zähle jedes Detail, als könne das kleinste Detail noch das Gewicht des Diesseits verstärken. Mit geradezu wissenschaftlicher Neugier beugt sich eine Angehörige zum Toten, während die Ehefrau, am Rand stehend, immerhin den Blick gen Himmel wendet. An einem anderen Grabmal lehnt ein Mann, nahezu lebensecht wie eine Figur von Duane Hanson, eine Hand vors Gesicht schlagend; unter freiem Himmel sitzt schon sehr lange eine ältere Dame bei einem Grab, melancholisch vor sich blickend, ein Büchlein in der fein behandschuhten Hand. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden die „im Leben stehenden“, ein erfolgreiches, erfülltes Leben bezeugenden Figurengruppen verdrängt von Todesengeln: Boten und Mittlern einer dunklen, unbezwingbaren Macht – oft sehr erotisch im leichten marmornen Überwurf.

Hinter dem Pantheon, an einem bewaldeten Hang, ließen sich zahlreiche Familien kleine Kapellen errichten, eine sogar als Miniaturkopie des Mailänder Doms. Heute erstrecken sich weite „demokratisierte“ Gräberfelder inmitten des Viereckbaus und in alle Richtungen hinter der ursprünglichen Anlage, samt endlosen, mehrstöckigen Urnenwänden. Ein tempelartiger Neubau nimmt weitere Urnen auf, neun „Schubfächer“ übereinander auf jeder Etage, wo es mich bei der Blumenfülle, den elektrischen ewigen Lichtern und der Klassik-Dauerbeschallung rasch wieder ins Freie treibt.

Hier wird nichts auf- und nichts weggeräumt

Auch die Verstorbenen, die eingeäschert werden sollen (in Staglieno ist es bereits mehr als die Hälfte), passieren im Leichenwagen die „Pforte“ und werden in einer Halle vor der Überführung zum Krematorium aufgebahrt. Ich bemerke, dass manche Angehörige einen Kranz vom Sarg nehmen und zu einem der umstehenden Denkmäler legen: für die Gefallenen der Artillerie, für die Kriegsfreiwilligen aus Ligurien, für unsere Feuerwehrleute.

Erst nach einigem Suchen entdecke ich, dass sich der Eingang zum Jüdischen Friedhof ganz in der Nähe des Haupteingangs befindet; von der anderen Seite, dem protestantischen Bereich, hatte ich nur hohe Mauern gesehen. Von den gepflegten Rabatten der öffentlichen Denkmäler gelange ich mit wenigen Schritten in einen umschlossenen Raum, in dessen fortschreitende Verwilderung absichtlich nicht eingegriffen wird. Aus zerbrochenen Grabeinfassungen wachsen kleine Palmen und Feigenbäume, altes Laub und trockene Tannennadeln bilden eine dicke, weiche Schicht, in der ich knöcheltief einsinke. Aber kein Grab wird hier entfernt – nein, alles bleibt so bis zum letzten Tag, bis zur Ankunft des Messias. Es gibt daher auf Staglieno noch einen zweiten, jüngeren israelitischen Friedhof; ein dritter ist in Planung. Ich gehe bis zum Ende, bis zur Mauer, wo ich bei der Rabbinerfamilie Tedeschi („Deutsche“) kaum noch Kiesel finde, um sie auf die Grabsteine zu legen, unter dem strengen Blick einer wilden Katze, die mich zu fragen scheint, was ich hier zu suchen habe, in ihrem Revier.

Zeugnis religiöser Toleranz

Staglieno ist auch ein Beispiel für jahrhundertelang geübte religiöse Toleranz. Andere Religionen erhalten selbstverständlich ihren Platz, mit eigenen Kapellen. Ein Taxifahrer meint später, gegenüber der deutschen Besucherin die „Unordentlichkeit“ des Ortes entschuldigen zu müssen. Dabei finde ich akkurate Trauerbepflanzung eher beklemmend, die penibel „eingefriedete“ Natur, die immer gleichen Floskeln aus Stiefmütterchen und Heidekraut, damit es „ordentlich blüht“. Statt auch mal etwas wachsen zu lassen im Lauf des Jahres, im Lauf der Zeit. Was mich auf italienischen Friedhöfen zunächst befremdet hat – die Fotos an den Grabsteinen –, entdecke ich jetzt als Anregung für Geschichten, für „Gedenken“. Die „cari nonni“, die geliebten Großeltern, lächeln mir hier entgegen wie Filmstars aus den vierziger Jahren . . .

Auf dem Cimitero Staglieno werden die Zeichen der Vergänglichkeit nicht eilfertig beseitigt, sondern respektiert. Ein Kindergrabfeld haben schon mehrere Unwetter verwüstet, Keramikengel und Plastikgestecke meterweit verweht. Ich beobachte einige Spaziergänger, die sich die Inschriften genau durchlesen und ein Requisit wieder an seinen ungefähren Platz stellen. Auf entlegenen, halb verfallenen Gräbern findet man Spuren neueren Besuchs, und wenn es eine noch unverwitterte Plastikblume ist. Es wird nicht aufgeräumt, aber auch nichts weggeräumt.

Tote alliierte Soldaten, „known unto God“

Ich wundere mich eher, dass dieser Reichtum an fein ausgearbeiteten, manchmal kitschigen, manchmal komischen, oft anrührenden Figurengruppen nicht bekannter und touristisch besser erschlossen ist. Im Unterschied zu den anderen „Top-Ten“-Friedhöfen Europas wie dem Père- Lachaise in Paris und dem Wiener Zentralfriedhof liegen auf Staglieno wenige international bekannte Persönlichkeiten begraben. Die bekannteste ist wohl Constance Lloyd-Wilde, die während der Gefängnisstrafe ihres Mannes Oscar Wilde ins Ausland ging, ohne sich allerdings von ihm, der wegen seiner homosexuellen Beziehungen verurteilt worden war, scheiden zu lassen. Sie lebte kurze Zeit in Bogliasco und wurde, als sie 1898 erst vierzigjährig starb, als „Constance Lloyd“ beerdigt; erst später hat man auf dem schlichten ornamentalen Marmorkreuz auch einen Hinweis auf Oscar Wilde angebracht (der sie um nur zwei Jahre überlebte und sein Grab auf dem Père-Lachaise hat).

Broschüren, die es am Eingang gibt, führen die markantesten Beispiele für den realistischen oder symbolistischen Stil auf. Die Orientierung innerhalb der Galerien ist oft nicht leicht, der Weg im Freien zugewuchert. Die größte Wildnis herrscht auf einer Terrasse im englischen Bereich des 19. Jahrhunderts, wo ich mir beinahe vorkomme wie Stanley, der sich durch den Dschungel zum verschollenen Livingstone vorkämpft. Der Lohn ein paar malerische Fotomotive, aber verweilen kann ich bei den schönen Engeln nicht: zu viele Brennnesseln. Sehr gepflegt wiederum, eine Terrasse höher, die Friedhöfe der Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg – junge Engländer, Amerikaner, aber auch Kanadier und Australier, viele von ihnen namenlos, „known unto God“.

Weit bin ich hinausgelaufen, ich müsste umkehren, aber an diesem Ort der letzten Ruhe hat mich noch eine vorletzte Unruhe im Griff. Gerne möchte ich weiterlauschen, den Elegien im hohen Ton, die bei den Statuen angestimmt werden, dem Geflüster zwischen den Grabsteinen, zu dem Fotos und Inschriften die Stichwörter geben. Aber vor Einbruch der Dunkelheit wird geschlossen, sind die Engel – die frommen und die lockenden, die lebensvollen und die todesmächtigen, die tröstenden und die anklagenden – mit den Tauben und den Katzen wieder für sich.

Die Autorin und ihr Gedicht

Susanne Stephan, Lyrikerin aus Stuttgart, war im Herbst 2011 Gast der Fondazione Bogliasco bei Genua. Im Juni 2012 wurde sie zum Festival della Poesia in Genua eingeladen. Dort hat sie auch ihr Gedicht „Cimitero Staglieno/Genua“ vorgestellt:

Die Totengräber streben hinaus

zur Bar: zum zweiten Kaffee.

Einer prüft noch einmal seinen Lottoschein.

Die Leichenwagen stehen Schlange

in Respekt: Für jeden

wird hier die Glocke geschlagen.

Sarg und Blumenschmuck gut einsehbar,

la differenza è sotto gli occhi di tutti.

Die Fahrer im Wagenschlag erzählen sich

so einiges, abgrundfröhlich.

Meine Hände kleben vom süßesten Brioche

der ganzen Stadt.

Drinnen hält das ertrunkene Mädchen

seinen Rettungsring lächelnd

im bronzenen Griff.

Das 19. Jahrhundert ein Wandelgang

der Ehrbarkeit, überlebensgroß.

Das Sichtbare ist das Wahre

und sticht mit Wucht

das kleine Ungefähr jenseits.

Im Heer der kleinen Gräber

Lebensgeschichten mit letzten Orten wie:

El Alamein, Monte Cassino, Mauthausen.

Auf Terrassen die Grabsteine                                         

der Alliierten,

in Reih und Glied, sehr weiß.Fallschirmjäger, abgesprungen

zwanzig, zweiundzwanzig Jahre alt.

Ewige Lichter auch im Schattendunkel

der protestantischen Zone:

heiligenbildfrei, den Schildern nach.

Aber hier ruft keine höhere Stimme

zur Ordnung,

auch nicht bei den Kindergräbern,

wo der Wind die Engel gestürzt,

eine Puppe geköpft,

wo die Eltern lang schon gebrechlich,

aber die Kinder noch die Augen aufreißen

im Schwefelblitz des Fotografen.

Das Herz des Todes ist groß.

Ich gehe und gehe im Kreis,

hier ist Losrennen kein schneller Ausweg.

Ein Minibus hält, der Fahrer verspricht,

auf dem Rückweg gewiss nimmt er mich mit,

er hat seinen Fahrplan nicht im Kopf,

aber er kommt sicher, glaubt er,

heute noch einmal bei mir vorbei.