Der Karlsruher FV war einer der bedeutendsten Fußballclubs Deutschlands, Deutscher Meister 1910, Heimat der einzigen jüdischen Nationalspieler, die es je gab. Dann kam der Absturz. Zum 125-Jahr-Jubiläum versucht man, den Verein wiederzubeleben – mit Idealismus und einem Urgroßneffen von Sepp Herberger.

Karlsruhe - Auf einem regennassen Sportplatz spielt die zweite Mannschaft des Karlsruher FV gegen den ATSV Mutschelbach. Es steht kurz nach der Pause 5:0 oder 6:0 für den Gegner, so genau weiß das keiner, die meisten schauen nicht wirklich zu, schwätzen über irgendetwas anderes, während die Partie läuft. „Nicht so passiv“, brüllt der KFV-Kapitän. Er wirkt irgendwie verzweifelt und nicht so, als wenn er daran glaubt, dass heute hier noch irgendetwas zu holen ist.

 

Es war ohnehin ein ambitioniertes Projekt, eine zweite Mannschaft anzumelden. Im Augenblick kicken nur neun gegen neun, weil nicht genug Spieler da sind. In der untersten aller unteren Klassen ist das erlaubt, damit nicht so viele Spiele abgesagt werden müssen. „Es ist immer  das gleiche“, stöhnt Herbert Durand, der sportliche Leiter, „auf nichts kann man sich verlassen.“

Als der Karlsruher Fußballverein 2007 in der untersten Liga, der Kreisklasse C, ankam, da war das für ihn ein Aufstieg. 2004 war er nämlich bereits weg vom Fenster, ausgeschlossen vom Spielbetrieb, weil er seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkam. Der letzte Vorstand hatte ihn mit mehr als 300 000 Euro Schulden hinterlassen und einem maroden Vereinsheim, in dem der Putz bröckelte.

Es war das Ende einer langen grandiosen Geschichte, die ihresgleichen sucht. Am 17. November 1891, vor 125 Jahren, hat sie auf einem Bolzplatz neben dem Bismarck-Gymnasium begonnen. Zu den Gründervätern gehörte Walter Bensemann, ein Fußballpionier und der erste Herausgeber der Zeitschrift „Kicker“. Bensemann gründete einen Fußballclub nach dem anderen – und nebenbei den Deutschen Fußballbund. Zu dessen ersten Spitzenvereinen gehörte der KFV.

Das wichtigste Datum in der Vereinsgeschichte

1905 wird der Club Süddeutscher Meister und fünf Jahre später sogar Deutscher Fußballmeister. Der 15. Mai 1910 ist bis heute das wichtigste Datum in der Vereinsgeschichte: 1:0 gegen Holstein Kiel. Nun ist man die Nummer eins im Lande. Es war die Zeit, als der Karslruher FV unzählige Nationalspieler stellte. Viele der frühen Länderspiele fanden in seinem Stadion an der Karlsruher Telegrafenkaserne statt, darunter das erste siegreiche Spiel einer deutschen Nationalelf überhaupt.

Das Gebäude der Telegrafenkaserne steht noch immer. Die Tribüne und das Clubhaus jedoch wurden plattgemacht, ausgerechnet im Sommer 2006, als in Deutschland die Fußball-WM stattfand.

„Das muss man sich mal vorstellen, das erste Stadion der Nationalmannschaft, einfach abgerissen!“ Der Mann, der das sagt und feinsäuberlich recherchiert hat, heißt Steffen Herberger. Er ist der Urgroßneffe des berühmten Bundestrainers Sepp Herberger und einer der Idealisten, die fest daran glauben, dass der Karlsruher FV eine Zukunft hat. Gerade ist Herberger auf dem Fußballplatz angekommen. Die zweite Mannschaft hat inzwischen 0:11 verloren oder 0:12. Es kommt darauf an, wen man gerade fragt. Jetzt steht die erste Mannschaft auf dem Platz. Sie ist Tabellenvorletzter, ein gewisser Erfolg. Am ersten Spieltag holte sie sogar ein Unentschieden, das wie ein Sieg gefeiert wurde.

Es ist so schwer, einen Verein wieder in Gang zu bringen, der keine eigene Jugendarbeit mehr hat und kein eigenes Vereinsgelände. Derzeit ist man Gast der Spielvereinigung Olympia Hertha. Zwei Sportplätze mitten im Wald, der eine nicht mehr als ein holpriger Acker. Es ist bereits die vierte Spielstätte, auf der sich der KFV eingemietet hat. Ein elendes Herumvagabundieren, das Gift für das neue Vereinsleben ist.

Im Augenblick verfolgen etwa zehn Zuschauer das Spiel der ersten Mannschaft. Ein paar Hundert Meter weiter jubeln Tausende dem Zweitligisten Karlsruher SC zu. Es war irgendwann in den fünfziger Jahren, als der KSC den KFV zu überholen begann. Alle paar Jahre rutschte der KFV ein wenig weiter ab. Als man sich 1969 ein nagelneues Clubhaus auf das Gelände an der Telegrafenkaserne stellte, da konnte man es sich eigentlich schon nicht mehr leisten.

Neues Leben für den Traditionsverein

Inzwischen stehen neben Steffen Herberger zwei weitere Herren am Spielfeldrand. Sie stecken die Köpfe zusammen, tuscheln, lassen ihren Blick schweifen. Es sind der erste, der zweite und der dritte Vorsitzende des Vereins. Ein erstaunlicher Apparat für einen Club, der kaum elf Spieler auf den Platz bringt.

Doch es ist viel passiert, seit der bereits totgesagte Traditionsclub zu neuem Leben erweckt wurde. Hundert Mitglieder konnten gewonnen werden und ein paar namhafte Herren, die an seiner Spitze stehen: Vereinschef Michael Obert ist Karlsruhes Baubürgermeister und sein Stellvertreter Andreas Reifsteck Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft und CDU-Funktionär. Dazwischen Steffen Herberger, dessen Name und Know-how Gold wert sind.

Steffen Herberger kam zum Karlsruher FV, weil er in seiner Freizeit ein bisschen Fußball spielen wollte. Er ist gerade 28 Jahre alt, Unternehmensberater und gewohnt, alles ziemlich schnell auf den Punkt zu bringen. Der Punkt ist, dass der Karlsruher FV eine riesengroße Geschichte, aber kaum eine Gegenwart hat. „Das wollen wir ändern“, sagen Obert, Reifsteck und Herberger unisono. Sie arbeiten fieberhaft daran, dass der KFV auf sein altes Vereinsgelände zurückkehren darf.

Dort steht zwar zwischenzeitlich ein Altenheim, aber ein paar große Fußballplätze sind übrig geblieben. Sie würden reichen, wenn der benachbarte Verein FC West bereit wäre, sein Areal mit dem KFV zu teilen. Ein heikles Unterfangen, weil alle davon ausgegangen waren, dass die Geschichte des insolventen Traditionsvereins vorüber ist. Hätte nicht jemand versäumt, ihn aus dem Vereinsregister zu löschen, wäre er vermutlich längst vergessen.

Der Meister-Wimpel ist wieder aufgetaucht

So aber ist der Karlsruher FV zum Projekt geworden von ein paar Fußballbesessenen, in denen der Kampfgeist erwacht ist. Andreas Reifsteck und Steffen Herberger lieben es, über das alte Vereinsgelände zu spazieren. Sie halten an einer Straße, die einstmals Karlsruher Weg hieß. Jetzt heißt sie Julius-Hirsch-Straße und der Platz daneben Gottfried-Fuchs-Platz.

Julius Hirsch und Gottfried Fuchs waren die einzigen jüdischen Fußballnationalspieler, die es in Deutschland je gab. Ihre sportliche Heimat war der KFV. Fuchs konnte nach Kanada fliehen, Hirsch kam in Auschwitz um. Dank Fuchs und Hirsch interessiert sich sogar der DFB für den KFV, seit 2005 gibt es einen Julius-Hirsch-Preis für Toleranz und Menschlichkeit.

Natürlich hat es Steffen Herberger geärgert, als der frühere DFB-Präsident Niersbach im Rahmen einer Preisverleihung einmal erzählt hat, Hirsch und Fuchs hätten beim KSC gespielt. „Das ist typisch“, sagt Herberger, der sich genau wie Reifsteck etwas mehr Geschichtsbewusstsein wünscht.

Sie versuchen, ihm mit allen Mitteln auf die Sprünge zu helfen. So ist es gelungen, den Meisterwimpel von 1910 wieder aufzutreiben. Irgendein Vereinsmitglied hatte ihn bei sich zu Hause vergraben und nach einem öffentlichen Aufruf tatsächlich wieder herausgerückt. „Im Freibad hat er ihn mir übergeben“, sagt Steffen Herberger, der seit Monaten fieberhaft an der Jubiläumschronik zum 125. Geburtstag arbeitet.

Vor Kurzem ist der letzte Nationalspieler aus den Reihen des Karlsruher FV gestorben. Kurt Ehrmann, als über 90-Jähriger kam er noch auf den Fußballplatz und erlebte die mühsamen Versuche der Wiederbelebung seines untergegangenen Vereins mit. Ein Wechselbad der Gefühle, das der alte Herr, der noch mit Fritz Walter auf dem Platz stand, tapfer ertrug. Für Herberger, Obert und Reifsteck war Kurt Ehrmann eine Fundgrube des Wissens. Und ein Aushängeschild, mit dem man den Neuanfang bewerben konnte.

Erinnerungsstücke im Altenheim

Es gibt unzählige Fotos und Filmdokumente aus der Glanzzeit des KFV. Im Stadtmuseum in Karlsruhe flimmert unter dem Meisterwimpel ein Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahre 1910 über den Schirm. Es ist die älteste erhaltene Aufnahme eines Fußballspiels in Deutschland, natürlich mit dem Karlsruher FV als einem der Akteure.

Im Erdgeschoss des Altenheims, das an der Stelle des Clubhauses steht, findet sich heute eine Dauerausstellung, die die Geschichte des KFV zeigt. Dutzende von Fotos, die Ausdruck des einstigen Ruhmes und der glorreichen Zeiten sind: das Telegrafenstadion, das mehr als 30 000 Zuschauer fasste, Prinz Max von Baden, der auf der Tribüne mitfiebert, Julius Hirsch und Gottfried Fuchs, die von einem Torerfolg zum nächsten stürmten.

Die glorreiche Vergangenheit lässt die Augen von Obert, Reifsteck und Herberger leuchten. Das heutige Spiel der ersten Mannschaft war dagegen wieder kein Grund zur Freude: 2:5. Aber der Trainer hat gute Ansätze erkannt, es hätte schlimmer kommen können. Vielleicht wird es ja doch noch etwas mit der Zukunft. Ein Heimspiel mit der Telegrafenkaserne im Hintergrund, davon träumen beim KFV alle. Dann wird es endlich auch auf dem Platz klappen.

Ganz sicher.