Das Trugbild vom Völker verbindenden Brenner pflegten nicht nur Mussolini und Hitler. An dem Alpenpass in Südtirol prallen bis heute Welten aufeinander.

Stuttgart - „Das Herz geht mir auf, wenn ich runterfahre nach Italien“, schwärmt Antonio Gagliardi. „Ab Brenner Sonne und Berge: das ist Italien. In Deutschland, da bist du wie ein Roboter. In Italien lebst du.“ Der erfolgreiche Lebensmittelhändler Gagliardi kam 1969 mit seinen Eltern nach Uhingen bei Göppingen. Dort organisierte er als junger Mann einen italienischen Laden, um seine Landsleute mit Lebensmitteln aus ihrer italienischen Heimat zu versorgen. Antonios Fiat vollgepackt mit vielen Köstlichkeiten aus Süditalien. So fuhr er zurück nach Deutschland.

 

Er ist eine von vier bedeutenden Routen des Alpentransits: Mit 1370 Metern Seehöhe ist der Brenner der niedrigste der großen Alpenpässe – und der verkehrsreichste. Oben auf der Passhöhe konnte man einst nicht durchbrausen wie heute. Der Zoll habe jeden Karton an der Grenze zwischen Italien und Österreich inspiziert, sagt Gagliardi. „Wenn du Salami geladen hast, dann hat ein Doktor eine Stichprobe genommen“. Für den Transit durch Österreich musste die Ware verplombt werden. Anfang April 1998 fielen auch am Brenner die Personenkontrollen und Schlagbäume weg. Freie Fahrt von Sizilien bis Lappland, für Menschen und Güter. Die Marktgemeinde Brenner, die zu Italien gehört, musste sich auf Veränderungen einstellen.

Ein Deutschenhasser schreibt Geschichte

Das Dopolavoro, ein Gasthaus im Zentrum des Ortes ist seit jeher Kantine für Eisenbahner und Polizisten, auch Versammlungslokal und Feierabendrestaurant. Ein deutsches Urlauberpaar genießt hier gerade Pizza und Wein. Die beiden sind von Innsbruck mit der Bahn heraufgefahren. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs, nicht weit vom Dopolavoro, präsentiert sich im halbmodernen Stil der Dreißigerjahre. Blau grundierte Tafeln, auf denen unten „Brenner“ steht und darüber „Brennero“. Angeblich soll das „o“ im italienischen Namen auf den Faschisten Ettore Tolomei zurückgehen. Der Deutschenhasser taufte die Orte Südtirols um, ersetzte ihre überlieferten deutschen Namen durch erfundene italienische. In seinem Testament verfügte Tolomei, mit dem Gesicht nach Norden begraben zu werden. Damit er aus dem Jenseits sehe, wie der letzte Deutsche auf dem Brenner Südtirol, pardon: die Provinz „Alto Adige“ verlasse.

In der Nische an einem Bahnsteig steht das Denkmal für Carl von Etzel. Der 1812 in Stuttgart geborene Ingenieur hatte die Brennerbahn geplant. Seine Büste ist wenige Schritte entfernt von der Bahnhofsbar, in der sich vereinzelt Gäste verlieren. Seit die Fernzüge, die zwischen München und Bologna oder Venedig pendeln nur kurz in der Station Brenner halten, steigt kaum ein Fahrgast aus.

Die italienische Staatsbahn hatte darauf bestanden, dass der Bahnhof auf italienischem Hoheitsgebiet liege. Nicht nur sie unterstellte Österreich Rückeroberungsgelüste. Bei der Elektrifizierung der Brennerstrecke setzte sie für den Südtiroler Abschnitt auf eine bereits damals veraltete Technologie als die österreichische Bahn auf Nordtiroler Seite. Auf einem kurzen Stück, das zunächst von der Elektrifizierung ausgespart blieb, übernahmen Dampfloks die Züge.

Hitler und Mussolini trafen sich mehrmals am Brenner

Die Schimäre vom Völker verbindenden Brenner pflegten auch Mussolini und Hitler. Ein historisches Brenner-Foto in einer Bildergalerie des Outletcenters vor Ort: Hitler beugt sich jovial aus dem Fenster seines Sonderzuges zu Mussolini herab. 1940 und 41 trafen sich die beiden Diktatoren mehrmals auf dem Brenner, um sich gegenseitig der Waffenbrüderschaft in Zweiten Weltkrieg zu versichern. Schon zuvor demonstrierten dort gut organisierte italienische Jungfaschisten und die deutsche Hitlerjugend ihre Verbundenheit. Sie war Propaganda, sollte Eintracht und Freundschaft vorspiegeln, wo weiter untergründige Feindschaft herrschte, befeuert durch die Nachwehen des am 10. September 1919 unterzeichneten Vertrags von Saint-Germain. Er verfügte, dass Österreich den südlichen Teil Tirols an Italien abtreten musste. Österreich gehörte zu den Verlieren, Italien zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs. Die Empörung war groß – diesseits und jenseits der neuen Scheidelinie. Die Parole von der „Unrechtsgrenze“ machte die Runde. Und sie ist bis heute nicht verstummt. Die Einheimischen fühlten sich der deutschsprachigen Kultur zugehörig und begehrten gegen die italienische Herrschaft auf.

Der Jura-Professor und Südtiroler Politiker Roland Riz erinnert sich an eine Lehrerin, die sich aus Norditalien nach Südtirol versetzten ließ – offenbar in missionarischer Absicht. Sie verlangte von den Schülern, dass sie mit ihr Italienisch sprachen. Ihre Botschaft: „il Brennero è il scaro confine della Patria“ (die Brennergrenze ist die heilige Grenze des Vaterlandes) – des italienischen natürlich.

Die Regierungen in Berlin und Rom beschlossen, in einer Abstimmung die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols vor die Alternative zu stellen, entweder in Südtirol zu bleiben oder nach Hitlerdeutschland beziehungsweise Österreich zu übersiedeln. Die Politiker hatten nicht damit gerechnet, dass 85 Prozent der Befragten Nazi-Deutschland den Vorzug gaben. Tatsächlich verließ aber nur ein Teil von ihnen Südtirol in Richtung Norden.

Nach dem Krieg: Protest der Unzufriedenen

Im Oktober 1943 beginnt eines der düstersten Brenner-Kapitel. Italien sagte sich von Mussolinis Faschismus los und erklärte Deutschland den Krieg. Der Hitler-Staat reagierte und ließ Tausende italienische Staatsbürger nach Deutschland deportieren, machte sie zu Zwangsarbeitern, interniert in Lagern. Ihr Weg führte oft über den Brenner. Kurz vor Kriegsende fuhr in Bozen ein letzter Zug ins Konzentrationslager Dachau ab.

Zwar bekam Südtirol dann bald nach dem Zweiten Weltkrieg die Selbstbestimmung für genau umrissene Politikfelder zugesagt. Das Versprechen wurde jedoch allenfalls halbherzig umgesetzt – und hintertrieben. Der Protest der Unzufriedenen kulminierte im terroristischen Widerstand und in der „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961. Strommasten wurden gesprengt, es gab Bombenanschläge gegen Polizeistationen. Sie wurden manchmal vorschnell mit dem „Befreiungsausschuss Südtirol“ in Verbindung gebracht. Sein Anführer war der strenggläubige Katholik Sepp Kerschbaumer. In der Liste Tiroler Nationalhelden nimmt er Platz zwei ein, gleich hinter Andreas Hofer, der 1810 hingerichtet wurde. Rund 150 Jahre später forderte der Widerstand gegen die italienische Vereinnahmung Südtirols mindestens 30 Menschenleben, auf beiden Seiten. Außerdem soll der italienische Geheimdienst mitgemischt und die Stimmung angeheizt haben. Die Erinnerung daran trübt das schön gefärbte Bild, das die Touristiker Südtirols pflegen.

Genauso wenig passt es zu den Erfahrungen des katholischen Priesters Hugo Senoner. Er denkt an die Kantine Dopolavoro. Sie befindet sich gegenüber der katholischen Kirche auf dem Brenner. „Warum kann man im Dopolavoro miteinander essen und trinken und karteln – und sobald man draußen ist, dann ist man sich Feind?“ Hugo Senoner beherrscht Italienisch und Deutsch und war in den 1990er Jahren Seelsorger der Gemeinde Brenner, wo er schon viele Kämpfe ausgefochten hat, vor allem als damals viele Flüchtlinge aus Kroatien oder Bosnien über die Brennerroute kamen.

Symbol für einen abgewirtschafteten Staat

Braut sich heute am Brenner erneut eine fatale Stimmung zusammen? Einen Vorgeschmack gab jüngst eine Kundgebung der Partei „Südtiroler Freiheit“. Sie sucht den Schulterschluss mit der rechtskonservativen Freiheitlichen Partei Österreichs und mit separatistischen Bewegungen Europas. „Südtirol ist nicht Italien“, lautet eine ihrer Parolen, eine andere: „Südtirol ist ein Teil von Österreich“.

„Den Brenner als Ort kann man nur von den weltgeschichtlichen Ereignissen her verstehen“, sagt Hugo Senoner. In den 1960er-Jahren, als der Italien-Tourismus in Schwung kam, lebten in der Grenzsiedlung auf der italienischen Passhöhe 1000 Einwohner, heute sind es nur noch 300. Schulen sind verschwunden, Wechselstuben, etliche Läden im Ort stehen leer. Der Brenner – er ist zum Symbol für einen Staat geworden, der sichtlich abgewirtschaftet hat. Zwischen den Häusern Geschäftigkeit unter anderem mit italienischen Weinen und Pasta in allen Variationen. Mehrere Bars und Cafés, reichlich Krimskrams. Einige Übernachtungsmöglichkeiten für eine Nacht. Am südlichen Rand der zusammengeschusterten Ortschaft ein neues Autobahn-Restaurant mit angeschlossener Kunstausstellung und überflüssigem Konferenzsaal. Die gewaltigen Abfertigungsanlagen für den Grenzverkehr abgebaut. Immer mal wieder die Drohung, sie doch wieder aufzubauen. Tag und Nacht donnern auf der Autobahn LKW-Kolonnen und in Ferienzeiten die Blechlawinen der Urlauber über die Passhöhe. Durchschnittlich rund 33 Tausend Fahrzeuge in 24 Stunden, Tendenz steigend.

Die Betreiber eines Modegeschäfts an der alten Hauptstraße mitten durch den Grenzort wollen nicht mehr an das Spruchband erinnert werden, auf dem sie sich mit Bürgerinitiativen gegen das als sinnlos empfundene Riesenprojekt des Brennerbasistunnels solidarisierten. Bald sollen Züge die Grenze tief im Berg passieren. Oben sind in einer ehemaligen Polizeikaserne Flüchtlinge einquartiert. Als sei es Absicht, sie am eigenen Leib erfahren zu lassen, dass Europa nicht das Paradies ist, von dem sie träumten.