Die Macht besaß im Stuttgarter Rathaus und im Landtag jahrzehntelang nur ein Parteibuch: jenes der CDU. Doch jetzt fahnden die Parteien nach dem neuen urbanen Lebensgefühl. Ein Blick in die Stammlokale von CDU und Grünen.

Stuttgart - Das Schild über dem Eingang hängt an einer eisernen Kette: „Ratskeller“. Unter dem verschnörkelten Schriftzug prangt ein goldenes Rössle. In den Schaukästen neben der Tür werden Schweineschnitzel Wiener Art, Kalbsnierle und hausgemachte Schweinskopfsülze mit Bratkartoffeln empfohlen. Wenige Stufen führen hinab in jenes Gewölbe, in dem die Stuttgarter CDU jahrzehntelang ihre Wahlsiege feierte. Unten dämpft ein Teppich die Geräusche. Linker Hand wölben sich dem Besucher Glasvitrinen entgegen, rechter Hand bietet sich der Festsaal Herzog Eberhard als Ort für Familienfeiern an. Am Ende des Teppichs wartet unter Holzverstrebungen, von denen künstliches Weinlaub rankt, ein älterer Herr mit Anzug, Krawatte und Einstecktuch.

 

Wenn die CDU im Ratskeller etwas zu feiern hatte, ist Gerhard Mayer-Vorfelder früher traditionell als einer der Letzten gegangen. MV nimmt Platz, bestellt ein großes Apfelsaftschorle und nickt einigen Leuten an den Nebentischen zu. Nur wenige andere haben so lange an der Stuttgarter CDU-Geschichte mitgeschrieben wie er: Kultusminister, Finanzminister – mehr als zwei Jahrzehnte war er der Kreisvorsitzende der Partei. „Bei der OB-Wahl ist für die CDU eine Ära zu Ende gegangen“, sagt Mayer-Vorfelder, „es wird schwierig sein, das Rathaus wieder zurückzuerobern, der Kuhn ist ja auch ein konservativer Typ.“

Für Gerhard Mayer-Vorfelder ist das ein Gütesiegel, immer noch. Am Nebentisch werden Rahmspinat und Spiegeleier serviert, MV nippt an seiner Apfelsaftschorle und verteilt weiter Streicheleinheiten – für die Grünen. „Viele CDU-Mitglieder fühlen sich inzwischen auch bei denen zu Hause.“ Die CDU habe es zu lange versäumt, sich um Umweltfragen zu kümmern, obwohl es doch in ihrem Grundsatzprogramm stehe. „Die Grünen sind weit in das bürgerliche Lager vorgestoßen. Die stehen der CDU näher als den Sozialdemokraten.“

Die Macht für die CDU – Ende eines Naturgesetzes

Der Ratskeller füllt sich, die meisten Besucher gehören zur Generation von MV, das schwarze Urgestein der Stadt. Im März wird er 80 Jahre alt. In den Gewölben des Rathauses hat die CDU sich selbst und ihre Wahlsieger gefeiert, es schien ein Naturgesetz zu sein. Die Macht besaß im Rathaus und im Landtag jahrzehntelang nur ein Parteibuch: jenes der CDU. Die Partei schien unerschütterlich, auf den der CDU nahestehenden Klett folgte Rommel, auf Rommel folgte Schuster. Auf Schuster folgte eine gewaltige Klatsche.

Die rechte Augenbraue von Gerhard Mayer-Vorfelder wandert Richtung Stirn. Er erzählt davon, wie er als Junge mit seiner Familie selbstverständlich jeden Sonntag in den Gottesdienst gegangen sei. Davon, wie er sich freiwillig zur Bundeswehr gemeldet habe, weil er sich dem Staat gegenüber verpflichtet fühlte. Er redet über ideologische Grabenkämpfe in der Politik. All diese Punkte gaben früher vielen Menschen Orientierung, sie waren ein Kompass. Die Nadel des Kompasses zeigte nach rechts, zur CDU.

„Diese Bindungen sind schwächer geworden“, sagt Mayer-Vorfelder, der lange über die CDU spricht, aber dabei nie „wir“ sagt. Seine Nachfolger an der Parteispitze grübeln über den modernen Großstadtbewohner – ein Wesen, das ihnen fremd geworden scheint. Nach der verlorenen Kommunalwahl 2009 hat die Partei einen „Arbeitskreis Lebensgefühl“ gegründet, um den Anschluss nicht zu verlieren. Dem urbanen Lebensgefühl spürt man gerne weiter im Ratskeller nach. An den Wänden hängen alte Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen die Herren lange Bärte und ihre Frauen rüschige Kleider tragen. In den Wänden des Ratskellers sind Vertiefungen eingelassen, in denen das Mobiliar der guten alten Zeit ausgestellt ist: glänzendes Zinngeschirr, eine Kaffeemühle und eine Standuhr. Ihre Zeiger sind stehen geblieben.

Grünes Gedankengut wurzelt tief in der Stadt

Der grüne Geist ist keineswegs über Nacht von den Halbhöhen der Stadt hinabgerauscht und durch Gewölbe und über Paternoster ins Rathaus eingedrungen. Grünes Gedankengut wurzelt tief in der Stuttgarter Geschichte, es lässt sich im württembergischen Landesmuseum besichtigen: In einem der Türme des Alten Schlosses stehen mehrere Fernrohre. Wer durch sie hindurchschaut, sieht die Wahrzeichen der Stadt: das Rathaus, die Stiftskirche. Dahinter schiebt sich der Anthroposophenhügel ins Bild. So hat der Volksmund jene Gegend auf der Uhlandshöhe getauft, wo unter der Regie von Rudolf Steiner die erste Waldorfschule eröffnet wurde. Steiner gehört zur geistigen Grundausstattung der Stadt. Als ihm kürzlich das Kunstmuseum eine Ausstellung widmete, stürmte das Publikum die Schau.

Doch die grünen Traditionslinien führen noch weiter zurück: In den 1880er Jahren erregte in Stuttgart ein Professor namens Gustav Jäger an der Polytechnischen Hochschule ungeheures Aufsehen: Jäger predigte die Vorzüge wollener Kleidung für das geistige und körperliche Wohlbefinden. Bei seinen Vorlesungen beschwor er auch die segensreichen Heilkräfte der Homöopathie. Jäger war Kult, seine Seminare waren überfüllt. Einer seiner Studenten sog seine Reden förmlich in sich auf, sie wurden zu seinem geistigen Nährstoff, er trug fortan selbst nur noch Wollkleidung. Später würde dieser junge Mann Fabriken besitzen und Wert darauf legen, dass seine Arbeiter saubere Luft einatmeten. Der junge Student hieß Robert Bosch.

Heute hat der grüne Geist längst jenen Mantel abgelegt, der ihn so exotisch wirken ließ. Dritte-Welt- und Bioläden sind keine Einsprengsel mehr. Biosupermärkte sind in beste Einkaufslagen vorgedrungen – am Bosch-Areal, in Degerloch und in der Klett-Passage. Die Zeiten der grünen Gründerväter mit Vollbart und Alpakapulli sind längst vorbei.

Der Mayer-Vorfelder der Grünen

Inzwischen sehen grüne Spitzenpolitiker aus wie Katrin Göring-Eckardt, Fritz Kuhn oder Klaus-Peter Murawski, der im Stuttgarter Rathaus zwischenzeitlich ob seiner ausgesucht geschmackvollen Kleidung in dunklen Tönen einen Spitznamen verpasst bekam, der seiner Eitelkeit durchaus schmeichelte: der Schwarze Baron. Klaus-Peter Murawski lacht auf eine Weise, die ihn selbst durchschüttelt. Politik betreibt er nach dem Lustprinzip, machtbewusst ist er auch. In beidem ist er Gerhard Mayer-Vorfelder ähnlich. An diesem Abend trinkt Murawski sein Feierabendbier im Schlesinger, jener Kneipe, in der sich die Grünen-Anhänger an den Wahlabenden treffen. Zuletzt gab es viel zu bejubeln: Als Fritz Kuhn das Rathaus eroberte, feierten Hunderte von Besuchern auf der Straße mit. Im Schlesinger selbst gab es selbst für Kuhn kaum ein Durchkommen.

Bei den Stuttgarter Grünen gilt Klaus-Peter Murawski als graue Eminenz. Als Krankenhaus- und Verwaltungsbürgermeister bestimmte er viele Jahre lang im Rathaus wichtige Entscheidungen mit. Seit dem politischen Wechsel in der Villa Reitzenstein hält er als Chef der Staatskanzlei Winfried Kretschmanns Regierungsapparat am Laufen. Im Schlesinger ist der 62-Jährige diesmal der älteste Gast. Das Publikum trägt Trainingsjacken und Pullis, die Kellnerin ein Muscleshirt, die Betreiber sind in der Punkbewegung groß geworden. Das sieht man ihrer Kneipe heute kaum noch an.

Murawski fing als Liberaler an

Klaus-Peter Murawski erzählt von früher. Seine ersten politischen Gehversuche hat er in Nürnberg unternommen. Er fing als Liberaler an, zog für die FDP in den Stadtrat ein, stieg bald zum Fraktionsvorsitzenden auf – und entfremdete sich immer mehr von seiner Partei. 1981 war das Maß voll. „Für die FDP spielte die Umweltpolitik kaum mehr eine Rolle, als dann die Nachrüstungsdebatte lief, fühlte ich mich in der Partei nicht mehr zu Hause.“

Murawski wechselte zu den Grünen. „Und mit mir taten das weitere 190 Parteimitglieder der FDP. Für die Grünen war diese Eintrittswelle ein regelrechter Schock, die haben vorher in Nürnberg nur in einer winzigen Metzgerei getagt.“ Als er 1996 als Verwaltungsbürgermeister nach Stuttgart ging, kamen ihm die schwäbischen Konservativen im Vergleich zu den strammen CSU-Leuten im Fränkischen wie Liberale vor. „Bei Susanne Eisenmann habe ich gar nicht geglaubt, dass sie in der CDU ist.“ Murawski entwickelte sich im Rathaus zum politischen Lieblingsfeind der CDU. Rommel? „Habe ich von der ersten Begegnung an gemocht.“ Schuster? „Intelligent, nett und witzig.“ Ein früherer Stadtrat der Freien Wähler bringe ihm vor Weihnachten immer Plätzchen vorbei.

Im Laufe der Jahre sind die Schwarzen bei dieser Umarmung immer schmaler und die Grünen immer breiter geworden. „Das Klima war für uns in Stuttgart schon immer günstig“, erzählt Murawski und erinnert sich an einen „Zeit“-Artikel über Rezzo Schlauch mit dem Titel „Liebling Killesberg“. Dafür, dass aus diesem Anbandeln der Stuttgarter mit den Grünen jetzt etwas Festes geworden ist, hat er seine eigenen Erklärungen. „Es gibt hier ein realistisches schwäbisches Bürgertum. Diese Leute schätzen es nicht, wenn ihre Alltagswelt massiv verändert wird, ohne dass man es ihnen gut begründet.“ Murawski fällt ein ganzes schwarzes Sündenregister ein: Die Pläne für den Trump-Tower, „die waren so was von aufgesetzt“, die Fällung von 140 uralten Bäumen am Marienplatz, die Rodung im Schlossgarten, die Versäumnisse bei der Denkmalpflege.

Die falschen Leute drängen an die grünen Fleischtöpfe

Die Kellnerin bringt noch ein Bier. Am Tresen werden Wraps gereicht. Die Gäste sitzen unter Kronleuchtern. Die Betreiber des Schlesinger haben ihre Gastrokarriere vor vielen Jahren in Stuttgart-Heslach in einem ausrangierten Fabrikgebäude begonnen. Damals hieß ihr Motto „Neues Leben in alten Mauern“, das Publikum erschien manchen Halbhöhenschwaben durchaus suspekt. Davon ist nichts geblieben: das Schlesinger ist eine Jedermann-Kneipe.

Geraucht wird vor der Tür. Klaus-Peter Murawski kommt aus der Kälte zurück. Er erlebt seit einiger Zeit, dass die Grünen auch für jene als politische Heimat attraktiv werden, „die nur an der Macht interessiert sind“. Darin sieht er die größte Gefahr für seine Partei. Dass sich die Kreativen einmal abwenden könnten und die Grünen selbst vertrocknet und verkrustet erscheinen. Dann könnte eine neue Ära schnell zu Ende gehen.