Stuttgart 21-Gegner wenden sich von den Grünen ab und Winfried Kretschmann wird zum Ersatz-Feindbild. Bei der Oberbürgermeisterwahl kann das entscheidend sein.

Stuttgart - Polizeischutz durch vier Streifenwagenbesatzungen und ein Spießrutenlauf durch eine Reihe von Demonstranten, die „Nie wieder Grün“ riefen und mit Schildern und dicken Ästen wedelten – spätestens seit dem Neujahrsempfang am Donnerstag dürfte bei den Grünen die Erkenntnis gereift sein, dass sie bei der OB-Wahl nur noch bedingt mit der Unterstützung von S-21-Gegnern rechnen dürfen. Wer es noch nicht glaubte, bekam es am Samstag bei der Kundgebung auf dem Schlossplatz erneut vermittelt: Mappus und OB Schuster haben als Feindbild ausgedient. Jetzt ist Winfried Kretschmann der Watschenmann.

 

Zorn gegen ehemalige Verbündete

Bis zum 9. Januar war man in Stuttgart davon ausgegangen, dass sich die Gegner von Stuttgart 21 im OB-Wahlkampf auf den Projektbefürworter Wolfgang Schuster, einschießen würden. Nach dessen überraschendem Verzicht richtet sich der Zorn der Kopfbahnhof-Anhänger nun aber verstärkt gegen die ehemaligen Verbündeten. Dazu hat auch der Chef der Staatskanzlei, Klaus-Peter Murawski, mit seinem Hinweis beigetragen, das sei alles nicht so schlimm, weil Stuttgart 21 die Chance innewohne, ein grünes Projekt zu werden. Vor allem aber, dass die Bahn unter den Augen der grün-roten Regierung begann, erst den Südflügel abzureißen und dann den Kahlschlag im Schlossgarten zu betreiben, hat die Enttäuschung über Kretschmann & Co. genährt.

Protest wird lauter

Weil die Landesregierung bei der Vergabe der 21 000 LBBW-Wohnungen ebenfalls patzte – ihre Aufsichtsratsvertreter hatten es im Vorfeld versäumt, einen ordentlichen Mieterschutz zur Grundvoraussetzung des Vergabeverfahrens zu machen – ist die Kritik gegen „die da oben in der Villa“ (Reitzenstein) auch jenseits der S-21-Protestler hörbarer geworden.

Immer häufiger sind nun Protestnoten an die Grünen, und vorzugsweise an den Ministerpräsidenten adressiert. Vor allem ihm werfen die S 21-Gegner vor, die ihrer Ansicht immer stärker zu Tage tretenden baulichen, bahnverkehrlichen und finanziellen Risiken totzuschweigen mit dem Hinweis auf das Ergebnis der Volksabstimmung, das ihm jede weitere politische Einflussnahme auf die Realisierung des Projekts verbiete.

Die Gegner von Stuttgart21 glauben an ein Scheitern des Projekts

Die Bahnhofs- und Parkschützer, die nach wie vor der Meinung sind, dass sich S 21 in den nächsten ein, zwei Jahren selbst erledigen könnte, sind aber offenbar nicht bereit, dieses Verhalten bei der OB-Wahl hinzunehmen. In diesen Kreisen wird darüber debattiert, ob nicht ein eigener Kandidat ins Rennen geschickt werden könnte. Das mediale Interesse des OB-Wahlkampfs bis zum 7. Oktober böte eine gute Möglichkeit, „doch noch mit unseren guten Argumenten die Öffentlichkeit zu erreichen“, meinte der Sprecher des Aktionsbündnisses, SÖS-Stadtrat Hannes Rockenbauch. Ziel sei es, die Grünen-Spitze dazu zu bringen, die Unzulänglichkeiten des Projekts wieder deutlich zu benennen. Die Hoffnung, dass S 21 – wenn schon nicht mehr politisch – so doch an sich selbst scheitern könnte, ist im Widerstand noch weit verbreitet. Allein der Aufwand für die Organisation des Wahlkampfs und die Kandidatenfindung werden als Herausforderung betrachtet.

Nicht-Wähler fatal für die Grünen

Mindestens so schlimm wie ein Gegenkandidat wäre für die Grünen, dass sich die enttäuschten Projektkritiker am 7. Oktober entscheiden würden, gar nicht zur Urne zu gehen. Die Christdemokraten würden sich ins Fäustchen lachen. Sie verfügen trotz aller interner Querelen – siehe Volksabstimmung – noch immer über eine hohe Mobilisierungskraft, die wahlentscheidend sein könnte.

Unterstützung erhielt Rockenbauch zuletzt von prominenter Seite: Heiner Geißler warf den Grünen vor, hinter die Ergebnisse der von ihm geleiteten Schlichtung zurückzufallen. Der Krimiautor Wolfgang Schorlau schrieb von „grünen Kreidefressern“ , die ihre Kritik nach der Volksabstimmung eingestellt hätten, obwohl ihr der Entscheid das beste Wahlergebnis aller Zeiten beschert habe. Die Grünen verspielten ohne Not ihr Potenzial, meinte Schorlau. Auch der Schauspieler Walter Sittler, seine Frau Sigrid Klausmann-Sittler und der Regisseur Volker Lösch appellierten im Vorfeld des Kahlschlags vergeblich an Kretschmann, sich weiter dem Konflikt zu stellen, auch wenn es unangenehm sei. Man erwarte von ihm einfach mehr als gute Vorsätze.

Bei OB-Wahl zählt jede Stimme

Wie groß die Gruppe der Projektgegner sein könnte, die „nie mehr Grün“ wählen will und deshalb Fritz Kuhn die Stimme verweigern würde, ist schwer abzuschätzen; vor allem nachdem sich der Widerstand durch Handlungen, die nichts mehr mit zivilem Ungehorsam gemein haben, selbst dezimiert. Anzunehmen ist aber, dass der Kreis der Unzufriedenen und Entschlossenen immer noch viel größer ist, als die rund 3000, die sich am Samstag vor dem Bahnhof versammelten, um gegen den Südflügelabriss und die Baumfällungen zu demonstrieren.

Wegen der niedrigen Beteiligung zählt bei einer OB-Wahl jede Stimme, das zeigt das Ergebnis von 2004. Damals gaben nur rund 182 000 Bürger (von 394 000 Berechtigten) ihre Stimme ab; OB Schuster erhielt im zweiten Wahlgang etwa 90 000 Stimmen, die ihm zur absoluten Mehrheit verhalfen (53,3 Prozent). So viele Stimmen erhielten die Stuttgarter Grünen bei der Landtagswahl 2010 – bei guter Beteiligung und dank vieler Projektgegner, die auf den Regierungswechsel und vor allem auf das Ende von S 21 wetteten.

Stimmen aus dem bürgerlichen Lager dazu gewinnen

Der Grünen-Kandidat Fritz Kuhn hat offenbar schon nachgerechnet. Ihm sei nicht bange, sagte er im StZ-Interview. Die im einen Lager verloren gehenden Stimmen will er im bürgerlichen zurückgewinnen. Es wäre allerdings absurd, wenn er als Projektkritiker abgestraft würde, „und dann einer ins Amt kommt, der Stuttgart 21 mit Hurra begrüßt hat“.

Soweit muss es nicht kommen, den Gegnern könnte ein Achtungserfolg im ersten Wahlgang schon reichen, um den Grünen Bedingungen für einen Rückzug samt Wahlempfehlung für Kuhn zu diktieren. Etwa die Forderung nach einem erneuten Stresstest unter realistischen Bedingungen, eine Faktenschlichtung für den Filderbereich oder eine ehrliche Kostenanalyse. Als Vorbild gilt ein Grüner: 2004 trotzte Boris Palmer OB Schuster unter anderem einen (jedoch nie vollzogenen) Bürgerentscheid bei erheblichen Mehrkosten und eine Nichtbebauung des Rohrers Wegs ab – und das mit gerade einmal 21,5 Prozent Stimmenanteil.

Vorgegebene Argumente

Mittlerweile scheinen die Grünen-Strategen in der „Villa“ die Gefahr erkannt zu haben. Sich selbst durchaus damit begnügend, Stuttgart 21 konstruktiv statt kritisch begleiten zu können, indem auf die vereinbarte Einhaltung des Kostendeckels von 4,5 Milliarden Euro verwiesen wird, werden die Stuttgarter Parteifreunde animiert, sich weiter vehement kritisch zu äußern. Damit nicht jeder etwas anderes sagt, wurden Argumente vorgegeben.

Geopfert hat sich etwa die Abgeordnete Muhterem Aras. Sie wolle weiter „überall die Finger in die Wunden legen“. Sie sagt, die Grünen hätten keineswegs „die Kritik eingestellt und den Kontakt zu den Wählern verloren“. Dass das so rüberkomme liege womöglich „an der fehlenden Kommunikation“. Auch die beiden Kreisvorsitzenden Philipp Franke und Petra Rühle geben sich in einem Kreis von rund 200 161 Mitgliedern der Aktion „Grüne gegen Stuttgart 21“ widerborstig. Und im Gemeinderat lässt der Grünen-Fraktionschef Peter Pätzold keine Gelegenheit aus, der Bahn auf den Zahn zu fühlen. So gesehen erfüllt sogar die Stadträtin Clarissa Seitz ihren Zweck, die sich zum Verdruss vieler Grünen an die Spitze des Aktionsbündnisses wählen gelassen hat. Allein bei den Baumfällungen enttäuschte die Zahl der Grünen-Basisvertreter.

Kretschmann sucht den Dialog

Winfried Kretschmann versuchte zuletzt, über Facebook und in persönlichen Gesprächen zu retten, was zu retten ist. Er erklärte einmal mehr dass es „bitter und schmerzlich“ gewesen sein, die Volksabstimmung zu verlieren, jedoch sei für ihn die Legitimation entfallen, Stuttgart 21 in Frage zu stellen. Über die Benennung von Schwächen das Projekt noch zu Fall zu bringen, sei mit ihm nicht zu machen.

Dafür haben jene Gesprächspartner, die etwa den Stresstest für mangelhaft erachten und von massiver Wählertäuschung sprechen, kein Verständnis, wie sie nach dem Treffen mit ihm deutlich machten. „Das Maß unserer Enttäuschung“ lasse sich nur schwer beschreiben, hieß es. „Der Graben, der sich zwischen Ihnen und Ihren Wählern aufgetan hat, ist leider tiefer geworden.“ Wie tief, zeigt der Vorwurf, Kretschmann würde Sicherheitsmängel tolerieren „und damit gegebenenfalls den Tod zahlreicher Bürger billigend in Kauf nehmen“. Wohin das führe, ist den Projektgegnern schon klar: „Mit dem Zerstören der grünen Parklandschaft wird auch das Grün in der Stuttgarter Parteienlandschaft verblassen.“