Am 9. April 1933 beschlossen beschließen 14 Fußballvereine aus Süddeutschland auf Einladung der Stuttgarter Kickers in der „Stuttgarter Erklärung“ den Ausschluss von Juden. Inzwischen entwickelt sich langsam eine Kultur des Erinnerns.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Die neue Ordnung wird an einem Montag verkündet. Sie klingt nur auf einen flüchtigen Blick harmlos. „Neuorientierung im Fußballsport“, überschreibt die „Tägliche Sportzeitung“ des „Stuttgarter Neuen Tagblatts“ am 10.  April 1933 einen Zweispalter. Im Text heißt es: „Auf Einladung der Stuttgarter Kickers trafen sich am Sonntag die Vorsitzenden der Fußballvereine (. . .), um zu den wichtigsten Tagesfragen Stellung zu nehmen.“ So beginnt das dunkelste Kapitel der deutschen Sportgeschichte: die Ausgrenzung von Juden.

 

Und so liest sie sich: nach „lebhafter Aussprache“ habe man folgenden Entschluss gefasst: „Freudig und entschieden“ stelle man sich den Bestrebungen der nationalen Regierung zur Verfügung und werde mit allen Kräften mitarbeiten. „Sie (die Vereine, Anm. der Redaktion) sind gewillt, im Sinne dieser Mitarbeit alle Folgerungen, insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus Sportvereinen, zu ziehen.“

Auch der FC Bayern saß mit am Tisch

Unterzeichnet wurde die „Stuttgarter Erklärung“ von 14 süddeutschen Spitzenvereinen jener Zeit, darunter neben den Stuttgarter Kickers Phönix Karlsruhe, Eintracht Frankfurt, Bayern München, der 1. FC Nürnberg, 1860 München und der 1. FC Kaiserslautern. Der Anfang der neuen Zeiten der Gleichschaltung.

Nach Hitlers Machtübernahme am 30.  Januar 1933 waren Juden schnell systematisch aus der Gesellschaft ausgegrenzt und mit Berufsverboten belegt worden. Am 7. April wurden sie aus dem Staatsdienst entfernt. Zwei Tage später aus dem Fußball. Am selben Tag beschlossen auch die Turner, ebenfalls in Stuttgart, auf ihrem Verbandstag den Ausschluss von Marxisten und aller „Männer und Frauen, die nach bisherigem öffentlichen Auftreten für die neue nationale Regierung nicht tragbar sind“. Der Sport, der Fußball, war nicht alleine, aber an der Spitze der Bewegung.

Das Schicksal von Fritz Kerr

Für Fritz Kerr ist es das Ende. Der Österreicher, einst Spieler und Trainer bei Hakoah Wien, deren Mannschaft in den 1920er Jahren zu den stärksten Europas zählte, ist zu jener Zeit Coach der Stuttgarter Kickers. Es ist nach 1927 bis 1929 seine zweite Amtszeit. Sie endet kurz nach dem 9. April 1933.

Noch vor Saisonende wird er aufgrund seiner jüdischen Herkunft ersetzt. Kerr flüchtet erst in die Schweiz und trainiert dort unter anderem den FC Aarau und Lausanne Sports, ehe er 1939 aus Angst vor einem deutschen Einmarsch nach Argentinien geht. Nach Kriegsende kehrt er nach Europa zurück und betreut 1951/1952 noch einmal die Stuttgarter Kickers. Er stirbt am 9. Oktober 1974 in Wien.

Die Kickers wollen ihr dunkelstes Kapitel ausleuchten

Vor wenigen Tagen war seine Tochter Katharina zu Besuch bei den Kickers. Die 70-Jährige, die in der Schweiz lebt, traf sich unter anderen mit dem Präsidenten der Kickers, Rainer Lorz. Die Journalistin und Buchautorin beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Aufarbeitung jener Jahre und sichtet derzeit die hinterlassenen Dokumente ihres Vaters. Auch die Kickers wollen dieses bisher kaum erforschte dunkelste Kapitel der Vereinsgeschichte nun verstärkt ausleuchten. „Wir sind ein Verein mit einer großen jüdischen Vergangenheit“, sagt Rainer Lorz: „Wir wollen das weiter aufarbeiten und vertiefen.“ Angedacht ist ein Projekt mit Schulklassen oder Studenten, um die offenen Fragen jener Jahre zu beantworten.

Angesichts der bescheidenen personellen Kapazitäten des Drittligisten ist die Aufarbeitung dieser Zeit vor allem Privatsache. Einer der intimsten Kenner der Geschichte der Stuttgarter Kickers ist dabei Timo Hellinger. Der Kickers-Fan betreut die Homepage www.kickersarchiv.de und versucht, Stück für Stück die Geschichte seines Clubs zu einem stimmigen Mosaik zusammenzusetzen. 2005 hat er damit begonnen, damals mit großer Unterstützung des ehemaligen Kickers-Geschäftsführers Jens Zimmermann. Die Aufarbeitung der Historie gleicht einer Schnitzeljagd durch Archive und Gedächtnisse, und oft ist sie erfolglos. Vieles ist verschwommen, verloren gegangen, unklar. Als würde man durch Milchglas blicken. Es ist ein Stochern im Dunst der Geschichte. „Es ist sehr schwer, Quellen zu finden“, sagt Timo Hellinger. „Und die Zeitzeugen sind leider größtenteils gestorben.“

Die starken jüdischen Wurzeln der Kickers

Gesichert ist, dass die Kickers starke jüdische Wurzeln haben. Von den 21 Gründungsmitgliedern der Stuttgarter Kickers im Jahr 1899 waren mindestens zwei jüdischen Glaubens: die Brüder Karl und Eduard Levy, deren weiteres Schicksal aber unbekannt ist. Die Stuttgarter Kickers pflegten bis 1933 gute Beziehungen zu großen jüdischen Clubs wie Hakoah Wien oder Hakoah Stuttgart. Anderes ist unklar. So spielen die Vereinsfarben Blau und Weiß in der jüdischen Geschichte als Farben des Gebetsmantels Tallit eine wichtige Rolle, auf den auch die israelische Flagge zurückgeht. Die drei markanten Sterne um das Kickers-K im Wappen, das der Professor Max Körner 1922 entwarf, könnten wiederum als ausgefüllte Davidsterne interpretiert werden. Belegt ist das nicht. Nach anderer Überlieferung sollen die drei Sterne um das „K“ für „Könner, Kämpfer, Kameraden“ stehen. Auch die Farbwahl könnte einen anderen Hintergrund haben.

Die Spielstätte hieß diffamierend „Judenwiese“

Von den Anhängern der Konkurrenten – etwa jenen des aus dem Arbeitermilieu entstammenden VfB Stuttgart – wurden die Kickers damals aber als jüdischer Verein wahrgenommen. Die Spielstätte wurde diffamierend als „Judenwiese“ oder „Hebräerwiese“ bezeichnet, selbst nach dem Krieg noch. Bis heute nennen manche die Kickers-Heimat Degerloch, wo der Club seit 1905 beheimatet ist, „Golanhöhen“. „Die Kickers waren kein explizit jüdischer Verein, aber Juden haben ohne Zweifel eine ganz wichtige Rolle im Verein gespielt “, sagt Timo Hellinger.

Das gilt für viele große Vereine, etwa den 1. FC Nürnberg, Eintracht Frankfurt oder Bayern München. Dort war Kurt Landauer lange Präsident (1913/1914 und von 1919 bis 1933) und hat den Club wie auch den deutschen Fußball jener Zeit maßgeblich geprägt. „Einer der großen Visionäre“ sei Landauer gewesen, heißt es in der Chronik des FC Bayern. Mit der „Stuttgarter Erklärung“ endet seine Ära: Am 30. April 1933 wird Landauer aus dem Verein geworfen, 1938 kommt er ins Konzentrationslager Dachau, aus dem er 33 Tage später aber wieder entlassen wird und in die Schweiz flieht. Nach dem Krieg kehrt er 1947 zurück nach München und wird erneut zum Bayern-Präsidenten gewählt (bis 1951).

Fußball war anfangs der Sport der Wohlhabenden

Jüdische Deutsche waren prägend für die Entwicklung des Fußballs, ja, ohne sie hätte es den Sport so in Deutschland vielleicht nie gegeben. Fußball galt damals als die feinere Variante des Rugbys und war der Sport der wohlhabenden Menschen. Entsprechend bürgerlich geprägt ist er gewesen, auch und vor allem durch jüdische Kaufleute. Sie haben als Gründungsmitglieder und als Finanziers wie auch als aktive Spieler deshalb in zahlreichen deutschen Vereinen ihre Spuren hinterlassen.

Allen voran Walther Bensemann, der 1889 den Fußball nach Deutschland brachte und zwei Jahre später den Karlsruher FV gründete. 1901 wurde der KFV Deutscher Meister – mit den jüdischen Nationalspielern Julius Hirsch und Gottfried Fuchs, der bei den Olympischen Spielen 1912 beim 16:0 gegen Russland zehn Tore erzielte. Ein Rekord für die Ewigkeit. Doch die Nazis wollten die Erinnerung an den jüdischen Anteil am deutschen Fußball tilgen. Als das Fachmagazin „Kicker“ 1939 ein Album mit den Nationalspielern seit 1900 herausbrachte, fehlten nur zwei Namen: die von Julius Hirsch und Gottfried Fuchs.

Bensemann, der Vater des deutschen Sportjournalismus

Aber zurück zu Walther Bensemann. Er ist nicht nur einer der Gründungsväter des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), sondern auch der Erfinder des „Kicker“. Von der ersten Ausgabe 1920 bis 1933 war er Herausgeber und Schreiber mit gefürchteter spitzer Feder, wie es heißt. Offiziell beendete er seine Tätigkeit dort im März 1933 auf ärztliches Anraten; von den neuen Machthaber in Berlin war zuvor wohl signalisiert worden, dass er unerwünscht sei. Am 30.  März reiste er in die Schweiz aus, wenige Tage später wurde die „Stuttgarter Erklärung“ verabschiedet, unterzeichnet wurde sie auch vom Karlsruher FV – von seinem KFV.

Bensemann starb am 12. November 1934 in Montreux. Nach dem Gang ins Exil in Deutschland noch schwer verunglimpft, gilt Walther Bensemann heute nicht nur als einer der Pioniere des Fußballs im Land, sondern auch als der Vater des deutschen Sportjournalismus.

Wie sich die Spuren verlieren

Wie Bensemann war auch Julius Hirsch 1933 entsetzt über die Unterschrift des Karlsruher FV unter die „Stuttgarter Erklärung“: „Ich lese heute im Sportbericht Stuttgart, dass die großen Vereine, darunter auch der KFV, einen Entschluss gefasst haben, dass die Juden aus den Sportvereinen zu entfernen seien. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV, dem ich seit 1902 angehöre, meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden gibt.“

Am 1. März 1943 wird Julius Hirsch nach Auschwitz deportiert. Seine Spur verliert sich. Jahre später, 1950, wird er mit Sterbedatum 8. Mai 1945, dem Tag, als der Krieg endet, offiziell für tot erklärt.

Gottfried Fuchs flüchtet nach Frankreich

Sein Teamkollege Gottfried Fuchs, von Sepp Herberger als „Beckenbauer meiner Jugend“ bezeichnet, hat seine Karriere bereits 1928 beendet, 1937 flüchtet er nach Frankreich, später geht er über Großbritannien nach Kanada. Dort lebt er bis zu seinem Tod 1972 als Godfrey E. Fochs.

Lebensläufe wie diese gibt es einige, sie gehören zur dunklen deutschen Sportgeschichte, sie sind aber oft in Vergessenheit geraten. Auch der von Hugo Nathan, der vor der Naziherrschaft maßgeblichen Anteil an den Glanzzeiten der Kickers hatte. Der Lederfabrikant ist bis 1933 Hauptsponsor und Leiter der Fußballabteilung. Mit dem 9. April 1933 endet sein Wirken bei den Kickers. Er übernimmt in der Folge wichtige Funktionen im neu gegründeten Sportbund Schild, in dem sich jüdische Sportler zusammengeschlossen haben.

Die Juden tragen eigene Fußballmeisterschaften aus

Von 1933 an tragen die Vereine der Verbände Makkabi und Schild ihre eigene Fußballmeisterschaft aus. 1938 wird der jüdischen Bevölkerung schließlich jeglicher Sport verboten, die Organisationen werden aufgelöst. Hugo Nathan flieht nach Kreuzlingen (Schweiz) und überlebt die NS-Zeit. Nach dem Krieg kehrt er zurück und wird Zweiter Vorsitzender der Kickers sowie erneut Leiter der Fußballabteilung.

Julius Baumann überlebt den Naziterror nicht. Baumann gilt als hervorragender Sportler und ist Fußball-Schiedsrichter bei den Kickers. Als er den Verein verlassen muss, unterrichtet er in der jüdischen Sportschule und ist als Vorbeter in der Gemeinde aktiv. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 hat er die Chance zur Ausreise, aber er bleibt, um sich um die Kinder der Gemeinde zu kümmern. Er bezahlt es mit seinem Leben. Ende 1942 wird er an die Gestapo verraten, nachdem er mit Hilfe einiger nichtjüdischer Mitbürger Obst und Gemüse für hungernde Juden aus der Markthalle organisiert hat und in einer Turnhalle versteckt. Er wird verhaftet. Sein Todesurteil. Eine Woche später, am 1. Oktober 1942, wird er im KZ Mauthausen ermordet. Julius Baumanns letzte Ruhestätte ist auf dem Pragfriedhof. „Er gab sein Leben für die jüdische Gemeinschaft“, steht auf dem Grabstein. In der Eberhardstraße 35 erinnert ein Stolperstein an ihn.

Der VfB Stuttgart und sein Pakt mit dem Teufel

Die Geschichte des VfB Stuttgart in jenen Jahren ist vielen bekannt, zumindest in Teilen. Der vor der NS-Zeit kleinere Lokalrivale der Kickers gilt als Vorzeigeclub der Nazis, frühzeitig sucht der Arbeiterverein die Nähe zur NSDAP. So tritt der VfB-Präsident Hans Kiener bereits 1932 in die Partei und stellt der NSDAP im selben Jahr das Gelände des VfB auf dem Wasen für eine Massenkundgebung zur Verfügung.

Ein Pakt mit dem Teufel. Der Verein wird Nutznießer des Regimes, ob er aber ein Vorzeigeverein gewesen ist, wie der renommierte Historiker Nils Havemann schreibt, und inwieweit das Vereinsleben entsprechend geprägt war, zumindest darüber gehen die Meinungen unter Historikern etwas auseinander. Der VfB hat viel zu lange zu dem Thema geschwiegen, kümmert sich aber mit dem neuen Leiter der historischen Abteilung, Florian Gauß, verstärkt um die Historie dieser zwölf Jahre.

Bruchstückhaft bekannt ist bislang nur die Geschichte des jüdischen VfB-Mitglieds Richard Ney. Der Mediziner hatte eine Praxis in der Hohenheimer Straße und war wohl Teamarzt des VfB, zudem spielte er Hockey im Verein. Nach der Machtübernahme der Nazis floh Ney 1941 als einer der letzten Stuttgarter Juden in die USA. Dort starb Ney 1970.

Die neue Kultur des Erinnerns

Der Fußball, der Sport, hat Schuld auf sich geladen, wie so viele Organisationen und Personen. Lange wurde das unter den Teppich gekehrt, erst seit wenigen Jahren gibt es eine Kultur des Erinnerns. Seit 2005 begehen Fans und Vereine den „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ am internationalen Holocaust-Gedenktag (27. Januar), es gibt den Julius-Hirsch-Preis, der DFB wie auch viele Clubs haben ihre Geschichte aufgearbeitet – oft übrigens auf Initiative von Fangruppen.

An die Vergessenen, an die Ausgestoßenen, an die Ermordeten hat auch das Magazin „11 Freunde“ kürzlich in einer Sonderausgabe mit dem Titel „Verlorene Helden“ in Zusammenarbeit mit der DFB-Kulturstiftung erinnert und darin einige jüdische Biografien zusammengestellt. Die Autoren schreiben dabei auch über den Bewusstseinswandel: „Trotz dieser positiven Entwicklung bleibt auf dem Weg der Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln des deutschen Fußballs noch viel zu tun.“