Kroatische Hafenstadt Rijeka ist Kulturhauptstadt Zwischen Punk und Tito-Kult
Rijeka ist Europas neue Kulturhauptstadt. Damit wird auch die Weltoffenheit der Bewohner gewürdigt.
Rijeka ist Europas neue Kulturhauptstadt. Damit wird auch die Weltoffenheit der Bewohner gewürdigt.
Rijeka - Die Stadt am Meer kommt wieder in Fluss. Starr und still ragen graue Hafenkräne am Ufer von Rijeka wie kranke Relikte aus einer längst vergangenen Zeit in den blauen Januarhimmel. Hinter den eingerüsteten Fassaden der Rikard-Bencic-Fabrik kreischen unermüdlich Kreissägen, rumpeln Zementmischer und ertönen dumpfe Hammerschläge. Lange galt das verwaiste Areal der früheren Zuckerfabrik als trister Zeuge des Niedergangs von Kroatiens größter Hafenstadt. Nun lässt die Umwandlung des heruntergekommenen Bencic-Viertels in das künftige „art kvart“ (Kunstviertel) Europas neue Kulturhauptstadt auf einen Neubeginn hoffen.
60 Jahre lang sei in Rijeka kein neues Museum errichtet worden, berichtet der ergraute Stadtchronist Velid Djekic auf der Terrasse des Café Galerija. Doch das Kulturjahr habe „ungekannte Investitionen“ und eine neue Dynamik nach Rijeka gebracht: „Das Europäische Hauptstadtjahr ist kein Märchen und kein Zauberstab, der alle unsere Probleme löst. Aber es ist ein Werkzeug. Und wenn wir uns klug anstellen, wird es uns helfen, einen Schritt in eine bessere Richtung zu tun.“
Am Jadranski Trg (Adria-Platz) zählt eine Digitaluhr auf einem stilisierten Kran die Stunden bis zur offiziellen Eröffnung des Kulturjahrs am 1. Februar ab. „Hafen der Vielfalt“ lautet das Motto der mehr als 600 Veranstaltungen, mit denen Kroatiens drittgrößte Stadt vier Millionen Touristen anzulocken hofft. Stark geschrumpft ist hingegen die Bevölkerung der krisengebeutelten Industriemetropole. Zählte Rijeka vor Ausbruch des Kroatienkriegs (1991 bis 1995) noch 168 000 Bewohner, waren es bei der letzten Volkszählung 2011 lediglich noch 128 000 – die heutige Bevölkerung wird sogar nur noch auf rund 115 000 Menschen geschätzt.
Rijeka blieb zwar von den Kämpfen und Schrecken des Kroatienkriegs verschont, doch die während des Kriegs verhängten UN-Sanktionen und kriminellen Privatisierungen beschleunigten den Niedergang. Der Verfall der Schwerindustrie und die Abwanderung seien das „Schlimmste, was der Stadt passiert“ sei, sagt der Schauspieler und Dramaturg Edvin Liveric. Er sei einer der wenigen, die wieder in die Stadt zurückkehrten, so der 49-Jährige: „Viele glauben, dass ich verrückt bin. Aber ich glaube noch immer an das Potenzial der Stadt.“
Das Kulturjahr werde das Gesicht der Stadt verändern, versichert Irena Kregar Segota, die Kommunikationschefin von „Rijeka 2020“. Rijeka soll zu einem neuen Ziel des Kultur- und City-Tourismus werden und gleichzeitig traditionelle Istrien-Urlauber zu Abstechern in die gerne umfahrene Transitstadt motivieren. „Kultur kann nicht alle Probleme lösen, aber zumindest die Wahrnehmung und das Image der Stadt ändern.“
Trotz der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der 90er Jahre sei es Rijeka geglückt, seinen Charakter als „Schmelztiegel“ und Ort des Miteinanders verschiedener Nationalitäten zu bewahren, sagt der Rückkehrer Edvin Liveric: „Darauf sind die Leute stolz.“ Tatsächlich zeigt sich „das rote Rijeka“ trotz seines langjährigen Niedergangs auffällig immun gegenüber den nationalistischen Tendenzen im Adriastaat. Auch als Europas Kulturhauptstadt ist Rijeka für Kroatiens Rechte ein rotes Tuch. Rijeka werde ein Jahr lang im „antifaschistischen Partisanengeist“ leben, schäumt das rechte Wochenblatt „Hrvatski Tjednik“ über Projekte wie den Umbau der Jacht des einstigen Staatenlenkers Josip Broz Tito zum Museum oder der geplanten Installation eines roten Sterns auf einem Hochhaus. Rijeka könne damit gleich in „Titograd“ umbenannt werden.
In der Stadt ohne Denkmal für den in Kroatien sonst allgegenwärtigen Staatsgründer Franjo Tudjman kam die abgewählte Staatschefin Kolinda Grabar-Kitarovic bei den Präsidentschaftswahlen zu Jahresbeginn nur auf 31 Prozent der Stimmen. Für die serbische Minderheit in der Stadt sei es ein Glück, dass die rechte HDZ-Partei in Rijeka noch nie an der Macht gewesen sei, sagt der mit einer Kroatin verheiratete serbischstämmige Rentner Djuro Budisavljevic. Ein multikulturelles Idyll sei Rijeka zwar keineswegs: „Aber das Klima ist für uns Serben hier wesentlich entspannter als in jeder anderen Stadt in Kroatien.“
Der Duft von frisch gebackener Pizza zieht im Café Boonker durch das Gewölbe unter meterdicken Bunkerwänden: Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die deutschen Besatzer die lang gezogene Bunkerhalle errichtet. Allein im 20. Jahrhundert war die Stadt unter dem Namen Rijeka oder Fiume ein Teil von sieben Staaten. Sei es das architektonische Erbe der Habsburgermonarchie, des faschistischen Italiens oder des sozialistischen Jugoslawiens: Mit der bewegten Geschichte der Stadt werden Besucher und Einheimische auf Schritt und Tritt konfrontiert.
Berge von Tintenfischen, Krabben und schwarzen Miesmuscheln buhlen in der zu k. u. k. Zeiten errichteten Jugendstilhalle des Fischmarkts um Kunden. Hinter der Vitus-Kathedrale zieht sich ein von den Italienern gegrabener Bunkertunnel unter dem Stadtgefängnis fast 330 Meter lang durch die Innenstadt. Ob Borovo-Schuhe, Kras-Kekse oder das Brausepulver Cedevit: Die Zeitreise auf der schmucklosen Rolltreppe des Kaufhauses Korzo zurück in die 60er Jahre wird von den Signets der einstigen Erfolgsmarken des zerfallenen Jugoslawiens begleitet.
Das Leben im jugoslawischen Sozialismus sei „keineswegs so schwarz-weiß“ gewesen, wie von manchen kroatischen Patrioten heute gerne behauptet, sagt der Stadtchronist Djekic. Nach Titos Bruch mit Stalin 1948 intensivierte Belgrad die Kontakte zu Washington – in Rijeka landeten daraufhin US-Frachter mit Weizen und Rüstungsgütern an. Dank der Matrosen schwappte schon Anfang der 50er Jahre das Virus der amerikanischen Popkultur in die Stadt. „Rijeka hatte als großer Hafen viel früher Kontakt zum Westen als andere Städte: Hier war die Atmosphäre immer freier – und entspannter.“
1957 wurde mit dem „Husar“ nicht nur der erste Rock-’n’-Roll-Club in Rijeka, sondern in ganz Osteuropa eröffnet. 1960 gründete sich in der Adriastadt die erste jugoslawische Rock-’n’-Roll-Band, Urigani. 1977 gab die Schülerband Paraf das erste spontane Punkkonzert in Osteuropa. Von einer „Punk-Guerilla“ spricht heute Djeric: „Sie hatten nichts angekündigt und spielten in einem Park vor den Augen eines verblüfften Milizionärs mit wenigen Akkorden gegen das System, die Schule und die Betriebsdirektoren, die ihre Arbeiter schikanierten.“
Auf dem Oberdeck des Hotelboots Marina treffen sich Rijekas Rockpioniere der 60er Jahre noch immer zweimal im Monat. Rijeka sei noch stets eine „Rock-Stadt“, sagt Djeric: „Wenn die Leute weniger Geld haben, gehen sie zwar weniger aus. Aber die heutige Szene ist noch immer vital, funktioniert noch stets.“
In Rijeka zählten andere Kriterien als die Blutsbande auf dem nationalistischen Balkan, und es sei auch weniger wichtig, ob man derselben Nation, demselben Clan oder Dorf entstamme, sagt Djeric.
Kann der Hauptstadttitel für das weltoffene, aber etwas ins Hintertreffen geratene Rijeka der Katalysator sein für die erhoffte Transformation in eine Kultur- und Tourismusstadt? Das Kulturjahr könnte die „Welle sein, die die Stadt in Bewegung bringt – oder in der sie untergeht“, sagt der Heimkehrer Liveric. Zumindest habe das Jahr bereits „positives Adrenalin“ und „tektonische Veränderungen“ bewirkt, stellt Djekic fest. Er und viele andere Einwohner der Stadt hoffen, das Jahr werde ein Beginn sein – und nicht das Ende.