Die Macht der Gene Zwillinge: Schicksal im Doppelpack?
Ein Forschungsprojekt begleitet Zwillingskinder über viele Jahre hinweg. Welche Macht haben unsere Gene über uns? Eine Familie aus Waiblingen ist Teil der Studie und erzählt.
Ein Forschungsprojekt begleitet Zwillingskinder über viele Jahre hinweg. Welche Macht haben unsere Gene über uns? Eine Familie aus Waiblingen ist Teil der Studie und erzählt.
Stuttgart - Als Babys haben Mika und Nils viele Freunde der Familie Dumler vor Rätsel gestellt. „Sie haben sich sehr ähnlich gesehen“, erzählt Silvia Dumler, „erst als sie älter wurden, haben sie sich optisch auseinanderentwickelt.“ Elf Jahre nach der Geburt ihrer beiden Söhne schmunzeln Silvia und Jochen Dumler, wenn manche ihrer Freunde Nils und Mika noch immer miteinander verwechseln: Einer von ihnen hat dunkle Haare und braune Augen, der andere blonde Haare und blaue Augen. Nils, der 17 Minuten ältere Bruder, braust auf, wenn ihn etwas nervt, während Mika cool bleibt.
Mika und Nils sind zweieiige Zwillinge – sie und ihre Eltern sind Teil des Forschungsprojekts Twinlife, das die Universität des Saarlands und die Universität Bielefeld 2014 begonnen haben.
Die Studie der Universitäten will Licht in einen Bereich der menschlichen Existenz bringen, der immer noch Geheimnisse birgt. Inwiefern spielen Gene eine Rolle, wenn es um die Intelligenz von Menschen geht? Wie stark prägen sie unseren Charakter, ohne dass wir Wesentliches daran ändern könnten? Welchen Einfluss haben hingegen Familie, Freunde, Reichtum oder Armut der Elternhäuser? Antworten auf diese Fragen interessieren nicht nur Forscher, sie sind gesellschaftlich umstritten und lösen immer wieder politischen Streit aus.
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Es gibt einen simplen Grund, warum ausgerechnet Zwillingsstudien Wissenschaftlern wertvolle Aufschlüsse über Menschen bringen. In den meisten Fällen vergleichen die Forscher eine Gruppe von eineiigen mit einer Gruppe von zweieiigen Zwillingen. Eineiige Zwillinge teilen sich 100 Prozent ihres Erbguts, zweieiige Zwillinge weisen lediglich eine genetische Ähnlichkeit von 50 Prozent auf. Genau wie ganz normale Geschwister. Die Wissenschaftler untersuchen nun, ob die Zwillinge jeweils ähnlich schlau sind, viele Freunde haben oder ob sie anfällig für bestimmte Krankheiten sind. Wenn eineiige Zwillinge einander bei bestimmten Merkmalen ähnlicher als zweieiige Zwillinge sind, schlussfolgern also die ForscherInnen, dass dies mit der größeren genetischen Ähnlichkeit zu tun hat.
Ursprünglich argumentierten viele Verhaltensforscher, dass vor allem Umwelteinflüsse den Menschen zu demjenigen machen, der er ist. Bereits frühe Studien mit Zwillingen brachten diese These ins Wanken. Die deutsche Twinlife-Studie begleitet seit sieben Jahren Familien mit Zwillingskindern im Alter zwischen fünf und 23 Jahren. Sie untersucht, wie die Zwillinge in der Schule zurechtkommen, aber auch, wie sie ticken und ob ihre Familien intakt sind. „Die Fragen gehen in die Tiefe“, erzählt Jochen Dumler, der Vater von Mika und Nils. Er musste beantworten, ob er jemals etwas gestohlen habe, ob er jeden Tag Alkohol trinke und wie er und seine Frau reagieren, wenn die Zwillinge mal etwas anstellen.
Der Psychologie-Professor Frank Spinath forscht seit den 1990er Jahren über Zwillinge – er und seine Mitstreiter haben aus Befragungen wie jenen der Dumlers einen Schatz an Erkenntnissen gewonnen. Spinath hat auf die alte Frage, ob Gene oder Umwelteinflüsse stärker auf Menschen wirken, eine prägnante Antwort gefunden: Die Gene spielen eine Schlüsselrolle. Und je älter Menschen werden, umso größer wird beispielsweise der Einfluss genetischer Faktoren auf die Intelligenz. Spinath ist überrascht, wenn er sich die Ergebnisse von Intelligenztests bei Kindern ansieht, deren Familien ein hohes Bildungsniveau aufweisen. Weil fast alle Kinder optimal gefördert wurden, ließ sich in der Gruppe ein klares Bild gewinnen.
Wenn manche Kinder schlauer als andere waren, mussten die Gene dafür verantwortlich sein – und nicht die Umweltbedingungen. Die Forscher blenden den Freundeskreis, die Schule oder den Sportverein als prägende Faktoren für Kinder und Jugendliche keineswegs aus, aber sie verschieben den Blickwinkel. „Wenn jemand in seiner Freizeit gerne Schach spielt, hat das womöglich damit zu tun, dass er ohnehin gerne knobelt, und das wiederum hat viel mit seinen genetischen Grundlagen zu tun“, sagt Spinath. Das hat Folgen für das Verständnis von einer Gesellschaft. „Egal, wie stark wir Kinder schulisch fördern, Gleichheit wird man im Ergebnis nicht erreichen“, so Spinath. „Wir müssen am Ende akzeptieren, dass es Leistungsunterschiede gibt.“
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Was bedeutet das für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern? Auch dafür bieten die Daten aus dem Zwillings-Forschungsprojekt aufschlussreiche Erkenntnisse. In sozial schwachen Milieus spielt das Umfeld für die Kinder eine wichtigere Rolle als bei den Eliten. Damit intelligente Kinder aus diesen Gesellschaftsschichten eine Chance bekommen, benötigen sie gute Rahmenbedingungen. Wenn die Eltern einen strukturierten Tagesablauf haben, verbessert das die Chancen ihrer Kinder im Vergleich zu einem chaotischen Familienleben. Wichtig sind auch Rückzugsräume für Kinder, in denen diese trotz beengter Wohnverhältnisse konzentriert lernen können.
Forscher haben lange angenommen, dass sich viele Geschwister ähneln, weil sie gemeinsam in derselben Familie aufwachsen. „In Wahrheit spielen die genetischen Gemeinsamkeiten eine entscheidendere Rolle“, sagt Spinath. So erklären sich auch Silvia und Jochen Dumler die verschiedenen Charaktere von Mika und Nils, ihren zweieiigen Zwillingen. „Wir behandeln sie mehr oder weniger gleich – dafür sind die zwei sehr unterschiedlich“, sagt Silvia Dumler.
„Wenn ich mir die beiden ansehe, glaube ich auch, dass die Gene eine große Rolle spielen“, meint ihr Mann. „Meine Frau und ich sind von den Charakterzügen her recht unterschiedlich. Ich bin der Ruhigere, meine Frau die Impulsivere. Das spiegelt sich bei unseren Jungs eins zu eins wider.“
Erfahrungen mit Zwillingen machen hierzulande immer mehr Eltern. In Deutschland bringt inzwischen jede 50. Frau mehr als ein Kind auf die Welt – Tendenz steigend. Neben der wachsenden Zahl von künstlichen Befruchtungen spielt dabei das gestiegene Durchschnittsalter der Mütter eine Rolle.
In Deutschland fällt ein dunkler Schatten aus der Vergangenheit auf die Zwillingsforschung. Der SS-Arzt Josef Mengele missbrauchte in Auschwitz Zwillingskinder für unmenschliche Experimente. Dabei vermengte sich die Rassenideologie der Nazis mit damaligen Forschungstrends in der sogenannten Biomedizin. „Das hat in Deutschland nach dem Krieg mit Sicherheit viele abgeschreckt, an diesem Thema zu arbeiten“, sagt Andreas Stengel vom Universitätsklinikum in Tübingen.
In der Universitätsstadt haben sich Genetiker, Experten für Frauengesundheit und Psychosomatik zusammengeschlossen und in diesem Sommer ein Forschungsprojekt gestartet, das Zwillinge von Geburt an begleitet. „Nehmen wir an, dass ein eineiiger Zwilling erkrankt, während der andere gesund bleibt. Dann interessiert uns, ob das eine genetisch beeinflusste Erkrankung ist“, sagt Stengel. Die Erkenntnisse sollen den Ärzten helfen, körperliche und psychische Leiden besser zu verstehen, um diese künftig gezielter als bisher behandeln zu können. Der Schlüsselbegriff dazu lautet „personalisierte Medizin“. Patienten mit der gleichen Erkrankung werden mit einer auf ihr genetisches Profil abgestimmten Therapie behandelt.
Die moderne Forschung an Zwillingen liefert nicht nur Antworten. Sie wirft auch neue Fragen auf. Eineiige Zwillinge sind genetische Doppelgänger – oder etwa doch nicht ganz? Forscher wissen heute, dass Zwillinge bereits im Mutterleib unterschiedliche Erfahrungen machen. Das sorgt dafür, dass sich auch eineiige Zwillinge unterschiedlich verhalten. „Die DNA ist nicht unveränderlich und statisch, sie ist dynamisch und verändert sich mit der Zeit“, so Stengel. Damit bezieht er sich auf die Epigenetik – dieser zufolge haben Umweltbedingungen einen Einfluss darauf, welche Teile des Erbguts abgelesen werden – und welche nicht.
Das kann sich auch auf Charakterzüge auswirken. „Ein Zwilling nimmt es als Ansporn, wie ihm der Vater entgegentritt, der andere Zwilling erlebt das eher als bedrohlich. Die erleben zwar im gleichen Alter die gleichen Bedingungen, es heißt aber nicht, dass es sich gleich auswirkt auf die Zwillinge“, sagt der Soziologe Martin Diewald von der Universität Bielefeld.
Gerade eineiigen Zwillingen wird von der Natur viel Gleiches in die Wiege gelegt. Dennoch geht jeder von ihnen seinen eigenen Weg. Schicksal gibt es nicht im Doppelpack.