Manar kam wie viele syrische Flüchtlinge mit dem Boot über das Meer. Nun träumt der 15-Jährige in einer schwäbischen Asylunterkunft von einer Karriere als Rapper.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Der Titelheld des Märchens aus 1001 Nacht „Aladdin und    die Wunderlampe“ ist 15 Jahre alt, als ihn ein magisches Buch in ein neues, erfolgreiches Leben führt. In der Realität von Hattenhofen im Landkreis Göppingen besitzt Alaiddin Bjeirmi kein Zauberwerk, und doch schickt sich sein 15-jähriger Sohn Manar an, mit seinem märchenhaften Rap-Talent ein wenig Licht in die Dunkelheit einer syrischen Flüchtlingsfamilie mit palästinensischen Wurzeln zu bringen.

 

Die Berichterstattung über Asylsuchende zeichnet derzeit meistens ein düsteres Bild. Überfüllte Hallen, überforderte Verwaltungen, besorgte Bürger – in dieser Gemengenlage wird der Strom an Flüchtlingen beschrieben, die in Deutschland Schutz suchen. Die ARD hat kürzlich angekündigt, die Bilder von Flüchtlingen sorgfältiger auswählen zu wollen. Statt viele „Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen“ sollen auch „junge, kräftig gebaute, alleinstehende Männer“ gezeigt werden, da sie die Mehrheit der Flüchtlinge ausmachten, sagte Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-Aktuell, vor wenigen Tagen laut dem Branchendienst Turi.

Vor der Flüchtlingsunterkunft in Hattenhofen spielen an diesem Nachmittag viele kleine Kinder ohne große Kulleraugen auf dem Hof Fußball. Vor der Unterkunft sieht es so aus, als hätte ein Filmemacher feinste Selbstversorgervorgartenidylle inszeniert. Im Treppenhaus hängt ein Kehrwochenkalender, der anzeigt, wann die insgesamt neun Familien aus Syrien und dem Kosovo, die hier leben, mit schwäbischer Sauberkeit an der Reihe sind.

Manar speist seine Familie mit Hoffnung

Auch im winzigen Wohnzimmer der Familie Bjeirmi serviert Manars Mutter Sabah starken Kaffee. Der älteste Sohn der Familie, Nour, ist 18 Jahre alt. Im Krieg in Syrien wurde er in der Nähe von Yarmouk, der Heimatstadt der Familie, verletzt. Heute leidet er unter Depressionen. Er geht alleine spazieren, weil er seine Geschichte nicht schon wieder erzählen will. Der jüngste Sohn, Raian, ist fünf Jahre alt. Er schaut Cartoons im Fernsehen auf einem abgewetzten Bürostuhl, in der linken Hand eine Banane, in der rechten Hand einen Plastikbogen. Wenn das Haus der Familie in Syrien bombardiert wurde, versteckte sich Raian in der Waschmaschine.

An dieser Stelle weiß man nicht, ob man nun lachen oder weinen soll. Manar Bjeirmi hat sich für das Lachen entschieden. Der 15-Jährige ist so etwas wie der Ernährer der Familie. Nicht im materiellen Sinne, er speist die Familie aber mit Hoffnung.

Mit zehn beginnt Manar in Syrien zu rappen. Er und seine Freunde schauen sich Youtube-Videos an und rappen eigene Texte über die Beats. Sein Vater Alaiddin Bjeirmi kümmert sich derweil um Verletzte in den Trümmern von Yarmouk, bringt sie ins Krankenhaus, sammelt mit anderen Freiwilligen die Leichen nach dem Beschuss durch das Assad-Regime ein. Dieses Engagement wird von den Machthabern nicht gern gesehen. Alaiddin Bjeirmi fühlt sich bedroht und flüchtet mit seinem Sohn Manar über das Meer von Ägypten nach Italien. Der Rest der Familie reist zwei Monate später nach Jordanien aus und kann später vom Vater aufgrund eines Asylantrags in Italien wieder zusammengeführt werden.

Vom roten Teppich in die Asylunterkunft

Die Überfahrt über das Meer dauert zwölf Tage. Alaiddin Bjeirmi will über die Flucht überhaupt nicht reden. Manar Bjeirmi gerät zum ersten Mal während des Gesprächs ins Stocken, sein sonst so sicheres Englisch verliert sich in kurzen, abgehackten Sätzen, die dunklen Augen suchen an der Decke Halt. „Wir haben 3000 Dollar pro Kopf gezahlt. Nach zehn Tagen war das Schiff kaputt, dann haben wir das Rote Kreuz alarmiert, das erst nach zwei Tagen kam“, erzählt Manar. „Ich will mich eigentlich nicht daran erinnern. Es war sehr kalt, es gab nichts zu essen, und es hat die ganze Zeit geregnet.“

Bei den Schilderungen der Flucht über das Meer verlässt Alaiddin Bjeirmi kurz den Raum. Erst als das Gespräch auf die unglaublichen Geschehnisse in Italien kommt, kehrt Alaiddin Bjeirmi zurück, zeigt Bilder auf Facebook und führt kurze Filme auf seinem alten Laptop vor.

Die märchenhafte Geschichte von Manar und seinem Vater Alaiddin wendet sich zum Guten, als Manar am Bahnhof von Mailand, den sie wie viele andere Flüchtlinge zum Schlafen genutzt haben, zu rappen beginnt. Der Drehbuchautor Antonio Augugliaro, der Journalist Gabriele del Grande und der syrische Dichter Khaled Soliman al-Nassiry werden auf Manar aufmerksam und binden ihn und seinen Vater in die Dokumentation „Io sto con la Sposa“, auf Deutsch „An der Seite der Braut“, ein. Die Geschichte hinter dem Film ist abenteuerlich: Die Filmemacher helfen Flüchtlingen, von Italien aus illegal nach Schweden zu reisen, indem sie eine Hochzeitsgesellschaft nachstellen, in der Hoffnung, dass eine Hochzeitsgesellschaft von den Behörden an den Grenzen nicht so genau kontrolliert wird.

Der Plan geht auf, Manar und sein Vater schaffen es bis nach Schweden, werden dort vom Radio und von Zeitungen interviewt, ehe sie wieder nach Italien abgeschoben werden. Der Film wird außerdem bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt. Die Flüchtlinge finden sich auf einmal auf dem roten Teppich wieder.

Die Angst bleibt

In der Asylunterkunft in Hattenhofen ist der rote Teppich weit weg. Die Erinnerungen daran werden aber lebendig, wenn Alaiddin Bjeirmi erzählt, wie das Bild seines Sohnes Manar mit dem Schauspieler Willem Dafoe zustande gekommen ist. Eine Journalistin habe gesagt, man dürfe Dafoe auf keinen Fall stören. Manar sei aber frech zu Dafoe gegangen und habe gesagt: „Hey, ich habe einen Film gemacht und bin sehr berühmt, willst du nicht ein Foto mit mir machen?“ Natürlich wollte Dafoe mit dem berühmten syrischen Rapper aus dem berühmten italienischen Film ein Foto machen. Manars Vater springt auf, als er die Szene schildert. Es ist der erste Moment eines längeren Gesprächs, in dem Alaiddin Bjeirmi nicht wie in sich zusammengefallen auf dem Sofa sitzt. Vater und Sohn stehen nebeneinander, beide lachen dasselbe gackernde Lachen. In diesem Moment ist die Rollenverteilung eine andere, als sie in einer Familie normalerweise herrscht: Es ist, als ob ein großer Junge vom Streich seines besten Freundes erzählt.

Im nächsten Moment sitzt Manars Vater wieder auf dem Sessel und zeigt sein ärztliches Attest, das ihm eine posttraumatische Angststörung bescheinigt. Er springt auf, um mit drei Packungen Tabletten wiederzukommen. Es sei alles so traurig. Er habe Angst. Angst, dass er die Familie nicht mehr ernähren könne. Angst, dass sie alle nach Syrien zurückmüssten. Aus einer Schachtel lösen sich einige Tabletten und fallen auf den Boden. Alaiddin Bjeirmi wird abgeholt. Von einem Ehrenamtlichen, der ihn zu seinem Deutschkurs bringt.

Manar erzählt dagegen weiter. Er müsse unbedingt ins Fernsehen, er wolle doch Angela Merkel danken. Von Angesicht zu Angesicht. Sie sei so gut zu allen Syrern. Die Deutschen seien alle so gut zu den Syrern. Für einen Moment kehrt der Vater zurück. „Die arabischen Länder haben uns nicht geholfen, unsere Glaubensbrüder haben uns im Stich gelassen. Nur die Deutschen haben uns geholfen“, sagt er und verlässt endgültig das Haus.

MC Manar will auf die große Bühne

Manars Wille, es als Rapper zu schaffen, ist kaum in Worte zu fassen. Zum einen will er die Geschichte des Krieges in Syrien in seinen Texten erzählen, zum anderen will er seiner Familie helfen. Tatsächlich besitzt er das Talent, auf der Bühne alles um sich herum ausblenden zu können. Als er vor einem halben Jahr bei einer Einbürgerungsfeier im Stuttgarter Rathaus vor mehreren Hundert geladenen Gästen auftritt, wirkt es so, als habe er 20 Jahre Bühnenerfahrung. Als er im Juli vom Veranstalter zwei Freikarten für die Hip-Hop-Open geschenkt bekommt, will er nicht nur als Gast Teil des Spektakels sein, er will unbedingt auf der Bühne auftreten, und wenn es nur für ein Lied ist.

Wenn Manar rappt, benutzt er dieselben Begriffe, die Gleichaltrige dank des Internets auch in London, in den Vereinigten Staaten oder in Stuttgart draufhaben. Manar will nun unbedingt neue Songs in einem Studio aufnehmen, er will den Starrapper Cro kennenlernen, er will am liebsten alles gleichzeitig machen. In Kirchheim unter Teck ist er Teil der Wüstenblumen, einer Band, in der zwölf Musiker aus acht Ländern spielen. Anja Henning, die als Sozialpädagogin das Projekt koordiniert, wird nicht müde, Manars Ehrgeiz zu loben.

Wenn er so weitermacht, braucht Manar Bjeirmi kein magisches Buch wie in „Aladdin und die Wunderlampe“. Als Wunderrapper schreibt er sein persönliches Märchen ganz alleine.