Paris an einem Tag erleben. Der TGV macht’s möglich. Doch statt Erlebnis zählt beim „Abseits“-Besitzer Klenk auf solchen Reisen das Ergebnis. 13 Stunden Paris werden so zum Knochenjob

Paris - Sale. Sale. Sale. Kein Schaufenster auf der Königstraße kommt ohne die magischen vier Buchstaben aus. Raus damit. Der Sommer hat zwar noch lange nicht sein wahres Gesicht gezeigt, aber die sommerliche Ware wird schon verramscht. Das Konsumentenkarussell dreht sich immer schneller. Wo kein Bedarf ist, wird er erzeugt.

 

Mittendrin statt nur dabei ist Winni Klenk. Besser gesagt: Der Stuttgarter Mode-Impresario steht zwischendrin. Zwischen dem Konsumenten und der Modeindustrie. Der Inhaber der Boutique Abseits ist Käufer und Verkäufer. An diesem Montag ist er Käufer. Sogar Großeinkäufer. Er wird beinahe hemmungslos Geld für die Frühjahrs- und Sommerkollektion 2017 in Paris ausgeben. Zuvor war er bereits in Mailand, Düsseldorf, München, Berlin und Florenz. Aber Paris ist immer noch der Nabel der Modewelt.

Klenk sowie seine zwei Mitarbeiter, Manu Thüring und Christian Koch, nehmen den ersten Zug an diesem Tag. TGV – ein Zug mit großer Geschwindigkeit, wie der Franzose sagt. Alles muss schnell gehen. Das Reisen, das Sichten, das Kaufen. Auch im Zug wird gearbeitet. Christian zückt das Smartphone und blättert durch eine spezielle App der „Vogue“. „Da sind alle Kollektionen und Shows zu sehen“, erklärt der Modedesigner in Diensten des Abseits und präsentiert dem Chef das Neueste. „Ich glaube, der Pulli von Umbro wird der Knaller.“ Der Chef schweigt.

Das Smartphone ist eine eigene Modewelt

Winni Klenk schweigt oft. Manchmal wirkt er sogar abwesend. Aber der Eindruck täuscht. Klenk ist immer präsent. Manchmal gedanklich eben an zwei Plätzen: Im Zug nach Paris und im Laden auf dem Kleinen Schlossplatz. „Wer arbeitet heute?“, fragt er. Nur zwei Leute. Klenks Gesicht zeigt, was er davon hält: null Komma nichts.

Aber sein Mitarbeiter lässt sich davon nicht beeindrucken. Er will per Smartphone eine Vorauswahl treffen. Der Chef nickt und riskiert einen Blick aufs Handy. Obwohl er weiß: Nichts ersetzt die Fahrt nach Paris. „Ich muss die Ware, den Schnitt, die Farbe sehen, ich muss alles fühlen“, sagt er und ist in Gedanken schon wieder an einem anderen Ort. Irgendwo. Wahrscheinlich in Paris bei Valentino. Der Beweis folgt im nächsten Moment. „Valentino war früher ja ein bisschen angestaubt. Aber nach einem Relaunch sind die wieder top.“ Auch der Preis. Ein T-Shirt der Nobelmarke kostet im Laden satte 800 Euro. Klenk: „So weit ist Stuttgart noch nicht.“

Die Betonung liegt auf noch. Denn Avantgardisten wie Klenk arbeiten am modischen Fortschritt der Stadt. Mit Maß und Ziel. Wenige haben so eine gute Nase für das, was für die Stuttgarter gerade noch (er-)tragbar ist. Darin liegt vielleicht auch sein geschäftlicher Erfolg. Auch hier bewegt er sich im Zwischendrin. Zwischen Mainstream und ausgefallen. Stets an der Grenze zur Untragbarkeit. Man mag es kalkuliertes Risiko nennen. Im Grunde ist es ein Gefühl für den urbanen Zeitgeist.

Und hier ist Winni Klenk schon immer seine eigenen Wege gegangen. Daher scheint es ihm nicht so recht zu passen, dass in der Modeindustrie mit viel Geld Geschmack manipuliert wird. Wenn der Vertriebsmann in einem Pariser Showroom hinter vorgehaltener Hand sagt, „Psst, das wird der neue ‚Vogue‘-Look“, dann weiß jeder Boutique-Besitzer, was die Stunde geschlagen hat. Er muss ordern. Denn „Vogue“ und die Konzerne werden ebendiese Kollektion gnadenlos promoten. Auf allen Kanälen, digital und gedruckt. Es ist eine heimliche Diktatur von Mode.

Boutique-Besitzer reist pro Jahr 30 Tage, um einzukaufen

Einer wie Klenk misstraut solchen Entwicklungen. Da ist er wie ein Jäger. Immer auf der Suche nach dem Einzigartigen. „Ich habe immer die stille Hoffnung, ein unbekanntes Label zu entdecken, das dann durch die Decke schießt.“ Viele hätten doch das Gleiche. Aber er will das Außerordentliche. Den individuellen Style. Alleine für den Sommer 2017 war er bereits 30 Tage unterwegs. Jetzt kommt die Krönung: Paris. Zig Marken, zig Showrooms.

„Es ist wie ein undurchdringbarer Dschungel“, sagt er zu seiner Suche nach den Trends des kommenden Sommers. Der Plan ist klar: „Ich brauche ein paar ausgefallene Stücke fürs Schaufenster und dazu das Tragbarste vom Ausgefallenen im Laden.“ Aber allein das Konzept mit insgesamt 78 Marken sei kein Erfolgsgarant: „Entscheidend ist immer, wie du es dem Kunden vermitteln kannst.“ So gesehen, wird Mode zur Vertrauenssache. Denn wer sich im Abseits einkleidet, weiß: Mode kann zum Abenteuer mit ungewissem Ausgang werden.

Das Angebot wird künstlich verknappt – und so noch begehrter

Diese Last drückt auf den Schultern von Klenk. Er kann noch so gut Trends erspüren, er kann fast perfekt einkaufen. Es bleibt ein Restrisiko. Zudem weiß jeder in der Branche: Selbst die beste Kollektion verkauft sich nicht zu 100 Prozent. Selbst dann nicht, wenn einer so geschmackssicher wie Klenk ist. Immer bleibt ein mulmiges Gefühl. Es ist das Gefühl, in dieser Turbo-Modewelt etwas zu verpassen. „Ich denke immer: Mensch, eigentlich müsste ich noch nach New York.“

Nun ist es immerhin Paris. Und als der TGV das Abseits-Trio im Gare de l’Est ausspuckt, halten die drei Stuttgarter beinahe das Hochgeschwindigkeitstempo. Klenk sprintet voran und bemerkt nicht, dass er im Stress seinen Koffer im Zug gelassen hat. Jetzt dämmert es, warum er sich manchmal „wie in einem Hamsterrad fühlt“. Denn an diesem Tag steht der Besuch bei sechs Mode-Labels an. Ein fast unmögliches Programm: Y3, Rag & Bone, Valentino, N‘ 21, MSGM, Kenzo Men, Balmain Man.

Im Taxi zur ersten Station, Y3 in der Rue de Piccardie, wird der Stuttgarter Mode-Zar beinahe ein wenig sentimental. Durch das Internet sei der Modemarkt langweilig geworden. Früher hätte er die entlegensten Winkel von New York durchforstet und Exklusives entdeckt. „Heute bekommst du jede Ansicht einer Kollektion im Netz. Dadurch entsteht eine gewisse Müdigkeit.“ Aus dieser Schläfrigkeit reißt ihn der Taxifahrer. „Merde . . .“, schimpft der Mann. Ein Transporter versperrt den Weg zu Y3.

Die Marke Y3 ist ein Symbol für die neue Zeit. Nicht wegen der Boots, die denen der ersten Mondfahrer ähneln. Das Label kooperiert mit Adidas. Das Produkt ist heiß – und das auf einem überhitzten Markt. Das Abseits Stuttgart bekommt daher nur zehn Paare einer Schuhkollektion. Angeblich sei die Fabrik in China ausgelastet. Winni Klenk rümpft die Nase. Er muss das Spiel mitmachen. Auch das Koppelgeschäft mit Y3: „Ich bekomme nur Schuhe, wenn ich auch Klamotten kaufe.“ Also macht er das Beste aus der Situation und entdeckt Hoodies – Kapuzenpullis: „Hoodies werden in der kommenden Saison ein Thema.“

Abseits-Geschäftsführer Manu Thüring saugt die Worte des Chefs auf. Dabei wäre das unnötig. Seit elf Jahren ist er bei Klenk. In dieser Zeit hat er viel gelernt. Beide verstehen sich blind – beide würden in einem Showroom so ziemlich die gleiche Ware ordern. So wundert es nicht, dass Thüring auf dem Weg zu Rag & Bone in der Rue de Sevigne Worte sagt, die von seinem Lehrmeister stammen könnten: „Wenn du kein Gespür für die Menschen und ihre Geschichte hast, dann stirbst du im Handel in Schönheit. Dann bist du wie ein Musiker, der erst in 100 Jahren berühmt wird.“

So gilt bei Rag & Bone die Prozedur: Blitzschnell entscheiden, was der Stuttgarter im kommenden Sommer tragen will. Bei jedem Griff am Kleiderständer fällt Winni Klenk unumstößliche Werturteile. Einmal entschieden gibt es keine Korrektur: zurück auf die Stange oder in den Warenkorb. „Zu langweilig, zu weit ausgeschnitten“, murmelt er, ehe er strahlt und sagt: „Ah, das hier ist ein typischer Abseits-Pulli.“ Was typisch Abseits ist? „Funky.“ Auf Deutsch: irre. Der ganz normale Wahnsinn also.

Es passt zur Ochsentour de France durch die Verkaufsräume in Paris. Sie ist alles andere als glamourös. „Wir könnten jetzt genauso gut in Paderborn sitzen“, witzelt Klenk, „von der Stadt bekomme ich meistens nix mit.“ Wie auch. Noch sechs Minuten bis Valentino. Die Zeit rast. Eine Unterschrift – und schon sind die Klamotten im Wert von vielen Tausend Euro eingetütet. „Es ist atemberaubend. In der Modewelt darfst du keine Angst haben“, sagt er hechelnd und rennt zu Valentino in den dritten Stock. Der Aufzug ist ihm zu langsam.

Valentino ist eigentlich nicht seine Welt. Weniger die Kreationen und deren Qualität. „Top“, sagt er anerkennend. Aber die Atmosphäre im mit Marmor ausgekleideten Showroom ist stocksteif. In jedem Raum stehen mindestens vier Damen in Schwarz. Ihre einzige Aufgabe heißt: da sein und scheinen. Sie dienen neben einem Kellner in Livree-Anzug alleine der Staffage. Zudem wirkt die aufgesetzte Freundlichkeit der Valentinos so, als könne sie jeden Augenblick kippen. Denn das Abseits ist für die Italiener eher ein kleiner Fisch. Klenks Budget gibt nur einen fünfstelligen Betrag her. Dafür bekommt man bei Valentino nicht viel. Zumindest nicht viel für den Stuttgarter.

Wie hat Winni Klenk auf der Hinreise gesagt: „Stuttgart ist noch nicht so weit.“ In vielen Dingen sei es eine Stadt mit Dorfcharakter. Aber gemessen an der Zeit, als Klenk vor vielen Jahren mit seiner Mission begonnen hat, ist Stuttgart weiter als manch andere Großstadt. Und mit jeder weiteren Reise nach Paris macht er die Stadt ein bisschen verrückter – zur Funky-Town.