„Musik ist die große Begabung meines Volkes“: Mutig löst sich die Sintezza Dotschy Reinhardt, die sich als Sängerin, Texterin, Komponistin einen Namen in der internationalen Jazzszene gemacht hat, von aller Erwartung - und schafft unerhört Neues.

Ravensburg/Berlin - Sie braucht Wurzeln. Und wer ihr auf der Suche nach dem Ursprung ihres Volkes folgen will, braucht Flügel. Dotschy Reinhardt verleiht sie jedem, den sie mit ihrer Musik beschwingt. Mutig löst sich die Künstlerin, die sich als Sängerin, Texterin, Komponistin einen Namen in der internationalen Jazzszene gemacht hat, von aller Erwartung, hört in sich hinein, um ihre eigene Sprache zu finden, schafft unerhört Neues: Heimat für das jahrhundertelang notgedrungen „fahrende Volk“ der Sinti, das sich verströmt auf dem Weg zum unbekannten Ziel gleich den Wassern des Sindhu. Selbst, wenn es ankommt, bleibt seine Abkunft in ihm lebendig.

 

Geboren ist die selbstbewusste Sinteza, die „für die andere Welt da draußen“ mit ihren Ämtern und Amtspersonen den Namen Michaela erhielt, am 10. November 1975 in Ravensburg. Dorthin kehrt sie, die seit nahezu einem Jahrzehnt mit ihrem Mann, dem Swingmusiker David Rose, in Berlin-Pankow lebt, immer wieder gerne zurück. Bis heute wohnt Großmutter Gali dort im Ummenwinkel, den die Stadt einst als Ghetto für die Sinti auswies: Ihr kleines Häuschen hat vor knapp dreißig Jahren die alte Holzbaracke aus der Nazizeit ersetzt, die Dotschy in ihrer Kindheit dank des Gartens mit seinen vielen Tieren wie ein Bauernhof erschien. Bis ihre Eltern Birgela Reinhardt und Buß Pfisterer ihre eigene Wohnung auf einem Hof im nahen Weiler Wetzisreute beziehen konnten, stand dort der Wohnwagen, in dem sie lebten.

Damals musste eine Sozialarbeiterin bei den Bürgern um Verständnis für den Zuzug werben. Vorurteile waren zu überwinden; engen Freundschaften standen sie im Weg. Kein Freudenfest war dem Mädchen die Fasnet im Oberschwäbischen, wo „Zigeuner“ noch zum Figurenrepertoire gehören und, wie in Berg anno 2005, „Zack, zack, Zigeunerpack“ ungestraft an Umzugswagen prangen darf. Selten fühlte es sich ausgeschlossener als an Tagen, da die Wetzisreuter sich zum Affen machten und die Kinder dazu anhielten, das alle Klischees tradierende Lied vom „lustigen Zigeunerleben im grünen Wald“ anzustimmen. Damals beschloss sie, den Begriff Zigeuner nie in den Mund zu nehmen. Und Dotschy zu sein, nicht Michaela.

Erst recht, da es die kleine Außenseiterin nach der Einschulung nicht leicht hatte: Deutsch war nicht ihre Muttersprache, sondern Romanes. Belächelt wurde sie bei jedem Grammatikfehler oder wenn ein gesuchtes Wort sich nicht finden ließ. Von der Schule erwartete sie mehr, als sie ihr bieten konnte: „Mehr Verständnis für meine Herkunft und meine Sprache, mehr Freiraum, um Ideen zu entwickeln, mehr Akzeptanz für meinen größten Wunsch, Sängerin zu werden.“ Früh stand fest, was sie wollte. Eine kleine Erwachsene, die seit dem fünften Lebensjahr ihren Traum hegte vom eigenen Weg. Und die ihre Lehrer fand – nicht in der Schule, sondern in der Familie.

Ihre Karriere beginnt in der Zeltmission

Ihr Großvater Benedikt nutzte als Wanderprediger auch seine musikalische Begabung zum Lob des Herrn, komponierte Lieder für den Gottesdienst, sang sie selbst, spielte Harmonium, hielt seine jungen Verwandten zum Üben an. Ein strenger Patriarch und Mentor. Oder ihr Onkel, Pastor Edmund Reinhardt, dessen Söhne Ismael und Bambi die junge Sängerin mit Gitarre, Geige und Keyboard im Gottesdienst begleiteten. Auch ihre Karrieren begannen in der Zeltmission „Leben und Licht“, die aus der Internationalen Zigeunermission hervorging. Ihre Großtante Kitty Winter beeindruckte Dotschy, nicht allein ihrer ausgebildeten Stimme wegen. Deren Vater machte sie dank seiner Plattensammlung mit Gesangssolisten vertraut. Schon die eigene Tochter ermutigte er, neue Wege zu gehen – mit ihrer Band Gypsy Nova. Ihren Onkel Bobby Falta, den Gitarristen im Schnuckenack-Reinhardt-Quintett und Partner von Joe Pass und Chuck Loeb, lernte Dotschy nicht minder schätzen, riet er doch zur eigenen Sprache – wie seinem Sohn Lancy, mit dem sie gerne auf der Bühne steht.

Selbst gesetzte Ziele pflegt die Sinteza mit eisernem Willen zu verfolgen. Sie nahm an Wettbewerben teil in oberschwäbischen Dörfern, in Arnach oder in Schmalegg, das viel auf seinen Minnesänger Ulrich von Winterstetten hält. Errang erste Erfolge bei Talentshows im Glottertal, wurde in die Show Horst Jankowskis eingeladen, lernte im Jugendjazzorchester Baden-Württemberg den Mann fürs Leben kennen, David („Lachso“) Rose, mit dem sie drei Jahre später „floh“, wie es bei ihrem Volk der Brauch ist: eine Nacht mit ihm außer Haus verbrachte und also verheiratet war. Das junge Paar zog nach Berlin, wo Dotschy nicht nur die Eltern, die Wiesen, die Tiere vermisste, sondern auch den Klang ihrer Muttersprache. Ihr Vetter Lancy meinte, das Heimweh und die Sehnsucht seien gut für die Kunst.

Dotschy Reinhardt fand Heimat in der Sprache der Sinti, ihrer Kultur, ihrer Musik. Sie schrieb Texte in Romanes, ersann bezaubernde Melodien dazu, fand ihren eigenen Weg. „Musik ist die große Begabung meines Volkes“, sagt sie, „aber auch die Falle, in die es schon so oft getappt ist“ – und zwar dann, wenn es jede Neuerung verweigere, die Auseinandersetzung mit Strömungen der Zeit meide. Dotschy Reinhardt ist nicht in ihr gefangen.

Verachtet, verfolgt, vernichtet

Wo immer sie mit ihrem Ensemble konzertiert, beweist sie es und wirbt um einen Frieden in versöhnter Verschiedenheit, der nicht aus verdrängter Vergangenheit erwachsen kann. Gespenstisch greift Geschichte in die Gegenwart, erweisen sich Vorurteile als Gefängnisse von langer Dauer. Dotschy Reinhardt hilft, sie zu öffnen: Sie klärt auf über ihr Volk in Ton und Wort. Das Buch „Gypsy“ hat sie geschrieben, die Geschichte einer großen Sinti-Familie. Ihrer Familie, die vor nahezu sechs Jahrhunderten auf ihrer abenteuerlichen Wanderung aus der Heimat auf dem indischen Subkontinent auch ins „Zweistromland“ von Donau und Neckar kam, in den Schwarzwald, nach Oberschwaben. Als Geigenbauer, Instrumentenhändler und Musiker wurden manche Mitglieder der weit verstreuten Sippe gerühmt, als Nachbarn die längste Zeit nicht geliebt und gelitten. Ihre Geschichte ist über weiteste Strecken eine der Ausgrenzung, Verachtung, Verfolgung, Vernichtung. Wo „Zigeuner“ als Fremdbezeichnung für die indischen Flüchtlinge, die sich nach ihrer Herkunftsregion selbst Sinti nennen, zum übelsten Schimpfwort wurde, zwang man ihnen nach der Vogelfreierklärung ein Leben auf, das ihnen zum tödlichen Vorwurf gemacht wurde: gedrängt an den Rand, dann an die Wand gestellt, nicht erst von den Nazis.

Viele Träger des Familiennamens führte der Weg in die Vernichtungslager des Ostens. In Waldmössingen erinnert das „Zigeunerhäusle“ Franz Reinhardts daran, in Schwenningen das Gedenkbuch für die Sinti und die Gedenktafel am „Zigeunerzwangsarbeiterlager Schillerhöhe“, in Ravensburg steht vor der katholischen Pfarrkirche St. Jodok das Denkmal für die Toten des Porrajmos, dem Völkermord an den Sinti und Roma.

Dotschy Reinhardts Großmutter Gali kann den „in rostigen Stahl geritzten Namen der Toten“ nichts abgewinnen: „Wie unwürdig das ist: erst bringen sie uns um, und dann schreiben sie noch auf, wen sie zur Strecke gebracht haben.“ Ihre Enkelin versteht sie und denkt doch anders. Ihr Urgroßvater Bernhard Pfisterer, ein angesehener Geigenbauer, geriet auf einer Odyssee des Grauens ins KZ Mauthausen, wurde dort aus der Gaskammer geholt, weil in der Lagerkapelle ein Musiker fehlte. Enge Verwandte, auch sein Sohn, wurden ermordet. Bernhard ist Dotschys Held. Wie er das Unglück meisterte. Wie er später unermüdlich für sein Recht stritt.

Ein Plädoyer für die historische Wahrheit

Sie achtet hoch, was Romani Rose, der Onkel ihres Mannes, der seit 30 Jahren dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma vorsteht, in der Bürgerrechtsbewegung für die Anerkennung seines Volks geleistet hat. Und sie versteht, warum er betont, dass „die Sinti wie alle anderen Deutschen seien, normalen Berufen nachgingen, studierten, öffentliche Ämter bekleideten, sesshaft, zur Miete wohnend oder im Eigenheim – und dass es immer so schon gewesen sei. Wie anders hätte er zu seiner Zeit gegen Vorurteile angehen sollen?“

Dotschy Reinhardt, Angehörige einer jungen Generation, die sich trotz der Erfahrung rassistischer Entgleisungen im Alltag vom Albdruck der Vergangenheit befreit, will sich „nicht in Schablonen zwängen lassen“, wendet sich gegen die kulturelle Selbstaufgabe in jenem „Übermaß an Anpassung, das schon damit beginnt, dass wir unsern Kindern deutsche Namen geben, damit sie in den Akten keine Sonderlinge sind“. Und sie plädiert für die historische Wahrheit: „Sicher gab es früher schon Sinti, die ein Haus ihr Eigen nannten oder zur Miete wohnten, doch noch viel mehr Sinti blieb nichts übrig, als mit Pferd und Wagen von Platz zu Platz zu ziehen. Dies zu leugnen ist für mich eine eigene Art der Diskriminierung.“ Wie die Behauptung, dass die Musik keine besondere Rolle spiele bei ihren Leuten.

Dotschy Reinhardt hat bereits mit ihrer ersten CD „Sprinkled Eyes“ neue Pfade beschritten: in der Interpretation, Verwandlung und Neuschöpfung der Kunst des musikalischen „Übervaters“ Django Reinhardt, der auch zu ihrer Familie gehört. In Romanes zu singen, „einer sehr schönen, sanglichen Sprache übrigens“, sieht sie ein wesentliches Mittel, um Vorurteile abzubauen. Als Vertreterin einer freien Generation, Sinteza und Deutsche zugleich, macht sie allen Mut, die neuen Chancen zu nutzen, von denen ihre Vorfahren nicht mal zu träumen gewagt haben. In ihrem neuen Buch erforscht Dotschy Reinhardt, was Wunder, „die Hochkultur der Sinti“ – und geht noch vor Veröffentlichung auf musikalische Spurensuche. Ihre aktuelle CD „Pani Sindhu“ ist ein sympathisches, in sich schlüssiges, klug komponiertes Konzeptalbum. Selbst Dotschys Fans wird es überraschen: Den musikalischen Reichtum werden sie erfassen, je öfter sie die CD hören.

Zwischen Lagerfeuerromantik und Jazzvirtuosität

Der Fluss wird ihr zu einem Sinnbild für die Geschichte ihres Volkes, ihrer Familie und auch ihrer selbst: Durch die Zeiten strömt der Sindhu, von dem die Sinti ihren Namen haben, und trägt von Ort zu Ort, „bis er sich zu guter Letzt in Schönheit auflöst – wo Heimat ist“. Die Sinti sind auf der Suche. Zwischen der Hommage an das legendäre Ensemble Hot Club de France und der Gefahr, den eigenen Ton nicht mehr zu treffen in der Anpassung ans moderne Umfeld, zwischen Lagerfeuerromantik und großartiger Jazzvirtuosität ist für eine neue Selbstvergewisserung der rechte Platz. Dotschy Reinhardt führt auf ihrer musikalischen Reise aus dem mythischen Königreich Sindhu im heutigen Pakistan über Persien nach Europa, von der Vertreibung vom Lagerplatz in der Nähe des schwäbischen Dorfs zu den Traumpfaden der ziehenden Ureinwohner.

Organisch verschmelzen der Bossa nova Brasiliens, US-amerikanischer Jazz, europäischer Gypsy-Swing und indische Sitarklänge mit Hi-Hat-Rauschen und Fingertrommeln, dazu der rhythmische Silbengesang Konakol, eine Art Scat-Singing. Das Ergebnis ist kein bemühter „Ethnojazz“, kein belangloser Mix. Spielerisch und doch traumwandlerisch sicher, meditativ befreiend zumeist, feinfühlig und tiefgründig hat Dotschy Reinhardt Ureigenes geschaffen. Eine Künstlerin erfüllt sich einen Traum. Aus dem kühnen Entwurf, im 21. Jahrhundert als Sinteza zeitgenössische Künstlerin zu sein, das Schaffen aber in der Tradition ihres Volkes zu verankern, wird Wirklichkeit. „Meinen Weg habe ich gefunden“, sagt Dotschy Reinhardt. Nach dem Gespräch steht sie auf und geht ausladenden Schritts – ohne sich noch einmal umzublicken.