Joe kann lächeln wie ein ganz netter Kerl. Aber der Netflix-Zehnteiler „You“ zeigt, wie der freundliche Buchhändler seine Angebetete mit allen digitalen Schikanen stalkt. Es geht hier um kranke Liebe und unseren Umgang mit Daten.

Stuttgart - Früher, war, nein, nicht alles besser, aber oft überschaubarer. Viele Fernsehhelden etwa hießen noch Fröhlich, Sommer, Dr. Guth und blickten stets freundlich drein, während das Böse gern Namen wie J. R., Rattler oder Schrott trug und entsprechend fiese grinste. Mittlerweile jedoch können selbst Serienkiller kein Wässerchen mehr trüben – es sei denn, eines ihrer Opfer fällt aufgeschlitzt hinein. Der Auftragsmörder Barry war zuletzt so ein Schmuseteufel, der Racheengel Dexter sowieso, vom Drogenkoch Walter White ganz zu schweigen. Und jetzt also: der arglose Buchhändler Joe.

 

In der famosen Streamingserie „You – Du wirst mich lieben“ lächelt er seit Mittwoch den gesamten Staffelauftakt wie Mamis Liebling, als er der reizenden Nachwuchsautorin Guinevere Beck den Hof macht. Dramaturgisch bis ins letzte Unterlippenknabbern der Angebeteten romantisch, kommen sich die zwei übers filmtaktisch tiefschürfende Thema Romane näher, ganz als wären sie Harry und Sally, nicht Beck und Joe. Befänden wir uns am Sonntagabend im ZDF, zehn Episoden lang gediehe hier vermutlich ein Traumpaar von süffiger Gefälligkeit. Wir befinden uns allerdings auf Netflix, weshalb der leutselige Literaturfreak nach gut einer halben Stunde sein wahres Gesicht zeigen darf.

Blutverkrustet im Plexiglaskäfig

Dann nämlich beginnt er, die bezaubernde Beck, wie sie von allen genannt wird, so vollumfänglich zu stalken, wie es das Internetzeitalter eben zulässt. Joe nimmt digital Witterung auf, durchforstet ihre sozialen Netzwerke, scannt das gesamte Online-Dasein, und als ihm durch Zufall das Smartphone der Ahnungslosen in die Hände fällt, beginnt der altmodische Dichtkunstexperte deren binäre Existenz zu durchdringen, als säße er in ihrem Kopf. „Was du wirklich brauchst, ist jemand, der dich rettet“, sagt Joe mit Engelszungen aus dem Off. Und wenn er mit dem arglosesten Lächeln der Psychothriller-Geschichte „Ich helfe dir, Beck“ hinzufügt, scheint alles noch irgendwie sozial verträglich zu sein.

Kurz darauf aber sitzt einer seiner Nebenbuhler blutverkrustet im Plexiglaskäfig unter Joes Buchladen, nachdem ihm der von Beck besessene Kontrollfreak jenen Hammer über den Schädel gezogen hat, der Minuten zuvor noch ein ledergebundenes Exemplar von „Don Quijote“ vom vernachlässigten Nachbarskind Paco reparieren half. Spätestens jetzt also erklärt sich das freundliche Gesicht des Bösen von allein. Die gute alte, wohlig warme, haptisch erfassbare Zeit stofflicher Wahrhaftigkeit befindet sich im Ringkampf mit der verlockend neuen, technisch kühlen, digital entfremdeten Ära paralleler Netzrealitäten.

Selbst die „Bravo“ zappelt

Dafür haben die Showrunner Greg Berlanti und Sera Gamble Personal mit einschlägiger Erfahrung gecastet. Joe zum Beispiel wird vom zuckersüßen Penn Badgley verkörpert – Jüngeren besonders aus „Gossip Girl“ ein Begriff, aus dem „Beverly Hills 90201“ der Generation Z also. Die bezaubernde Elizabeth Lail alias Beck dagegen kennt ihre Alterskohorte unter 25 aus dem verspielten Fantasyepos „Once upon a Time“, während die toughe Shay Mitchell als Becks misstrauische Freundin Peach in der Mysteryserie „Pretty little Liars“ zur Zielgruppenberühmtheit wurde. Kein Wunder, dass selbst die „Bravo“ ganz zappelig „You“ empfiehlt.

Dabei ist der Zehnteiler des Kabelsenders Lifetime, den Netflix kurz vorm Entschluss zur Fortsetzung noch schnell als „Original“ lizensierte, alles andere als gefälliges Jugendprogramm – nicht nur wegen Joes rücksichtsloser Besessenheit, mit der er vom Objekt seiner Begierde Besitz ergreift. Auch die Metaebene vom Kulturclash der Moderne mit ihrer eigenen Zukunft ist inklusive einer Metoo-Randgeschichte etwas vertrackt für von Youtube geprägte Aufmerksamkeitsspannen. Neben der bizarren Lovestory geht es um jenen Big Brother, den sich die sozialen Netzwerker aller Länder ganz freiwillig aufs Smartphone laden. Dass „You“ nebenbei noch ein aufregender Actionstoff ist, macht das Ganze nur empfehlenswerter.

Info: Beim Streamingdienst Netflix, alle Folgen bereits abrufbar