Die Existenz der liberalen Partei ist bedroht. Die gesamte Parteispitze tritt zurück. Christian Lindner will die FDP reformieren. Er hat nicht nur Verbündete.

Berlin - Sie sitzen an drei langen Tischen, ein letztes Mal haben sie hier im Bundestag etwas zu sagen, die 93 Frauen und Männer der scheidenden FDP-Fraktion. Eigentlich waren auch die neu gewählten Abgeordneten aufgerufen, sich hier um 11.30 Uhr gemeinsam mit dem Bundesvorstand im Protokollsaal 1 des Reichstagsgebäudes feiern zu lassen. Das aber hat sich mit dem vorläufigen amtlichen Endergebnis erledigt. Die größte FDP-Fraktion aller Zeiten, einst kraftstrotzend nach dem Gewinn von 14,6 Prozent der Stimmen, muss klein beigeben und das Feld räumen.

 

4,8 Prozent hat die FDP eingefahren. Erstmals in der Historie der Bundesrepublik wird das Parlament sich ohne die Liberalen konstituieren. Es ist eine bittere Zeit des Abschieds. Rund 600 FDP-Mitarbeiter in der Fraktion und in den Wahlkreisbüros verlieren ihren Job. Das ist Demokratie, sicher. Nach jeder Wahl machen die Verlierer den Gewinnern klaglos Platz. Und so ist für einige auch nicht der Verlust des Jobs das Schlimmste an der Sache, sondern der Umstand, „dass man es irgendwie nachvollziehen kann“.

Die Partei habe sich schlicht und einfach miserabel präsentiert, sagt auch Lasse Becker, Chef der Jungen Liberalen, und zwar nicht erst in den letzten Tagen, sondern über die gesamte Legislaturperiode. Schon der Start sei missglückt. Der von Ex-Parteichef Guido Westerwelle schlecht verhandelte Koalitionsvertrag, die irrsinnigen Mehr-Netto-vom-Brutto-Versprechen, die Bereitschaft, mal dieser, mal jener Wählergruppe einen Gefallen zu tun, der fehlende Blick für das große liberale Ganze – all das habe die Partei so tief sinken lassen, dass sie zuletzt nicht mehr abheben konnte.

Den Kopf oben halten: Rösler auf dem Weg in die Präsidiumssitzung. Foto: dpa-Zentralbild

Wolfgang Kubicki, Landeschef in Schleswig-Holstein, urteilt ähnlich hart. Er sieht am Morgen nach der Wahl aus, als sei er gar nicht erst zu Bett gegangen. Es sei beachtlich, dass es fünf FDP-Minister danach nicht geschafft hätten zu vermitteln, wofür die FDP stehe, ätzt er. Das unwürdige Betteln um Zweitstimmen habe dann die Niederlage endgültig besiegelt. Ein Wahlkampfmanager sieht das differenzierter. Aber auch er räumt ein: „Wenn man sich als Funktionspartei anbietet, muss man halt auch funktioniert haben.“

So reden viele heute. Die Sitzung der Gremien verläuft dennoch erstaunlich ruhig, ohne wüste Ausfälle oder verbale Abrechnungen. Es gibt ja auch nicht mehr viel zu verteilen, was einen erbitterten Streit lohnen würde. Da schleicht eine Mannschaft mit dem deprimierenden Gefühl vom Platz, sich die Niederlage selbst hart erarbeitet zu haben. Die Abgeordneten sitzen da mit starren Mienen, viele noch blass nach einer durchwachten Nacht der enttäuschten Hoffnungen. Auf den Tischen steht fleischlose Kost: Tellerchen mit Orangen, Äpfeln, Weintrauben. Veggie-Day bei den Liberalen. Eine bittere Pointe ist das, denn im Wahlkampf sollte der Protest gegen den Fleischverzicht, den die Grünen verordnen wollten, der FDP über die Fünfprozenthürde helfen. Jetzt beißen die Abgeordneten selbst in saure Äpfel.

Brüderle reist bereits als Privatmann an

Philipp Rösler sitzt an der Stirnseite, neben ihm Rainer Brüderle, der Spitzenkandidat. Ihre Zeit läuft ab, daran gibt es zu diesem Zeitpunkt schon keine Zweifel mehr. Brüderle ist eh schon Geschichte, Spitzenkandidat war er und Fraktionschef kann er mangels Fraktion nicht mehr werden. Er ist also im Grunde schon als Privatmann angereist. Die Fraktion wird er noch abwickeln müssen, das war es dann. Nach der Sitzung gibt er vor den Kameras den Mutmacher, aber mehr als abgegriffene Floskeln bringt er nicht mehr zustande. „Er ist fertig“, sagen sie in der FDP.

Brüderle (rechts) wirkt sehr erschöpft. Foto: dpa

Brüderle übernimmt Verantwortung, zieht sich zurück, was bleibt ihm übrig. Der 68-Jährige nuschelt müde und erschöpft, ist wieder schwer zu verstehen. Von „Kampfeswille“ ist die Rede und von der „Zuversicht, dass wir selbstverständlich wieder kommen werden“. Woran es lag? Nun, natürlich habe ihn auch dieser verdammte Sturz geschwächt, bei dem er sich im Juni Oberschenkel und Hand gebrochen hat. Normalerweise müsse man da zehn Wochen pausieren, er aber habe nach vier Wochen wieder den Karren ziehen wollen. „Ich bin an den Rand meiner physischen Leistungsfähigkeit gegangen“, sagt er und klingt dabei ein wenig stolz auf das Maß an Selbstüberwindung, dass er sich abverlangte. Mancher in der Partei hätte sich gleichwohl im Nachhinein gewünscht, er hätte sich und der FDP diesen Einsatz erspart, der notgedrungen kraftlos und gequält wirken musste.

Auch Parteichef Rösler kündigt noch in der Sitzung seinen Rückzug an, Präsidium, Vorstand und Generalsekretär Patrick Döring tun es ihm gleich. Die scheidende Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger legt den Vorsitz der Bayern-FDP nieder. Selbst wenn Rösler wollte, selbst wenn er nicht das Gefühl verspüren würde, Verantwortung übernehmen zu müssen, er könnte nicht mehr weitermachen als Parteivorsitzender. Er hat keinen Apparat mehr, keinen Stab, kein Ministerium und keine Fraktion als Machtbasis. Als er vor den Protokollsaal tritt, wirkt er gefasst. Er sucht keine Ausflüchte. „Man hat ganz bewusst diese FDP abgewählt“, sagt er. Und weil er für „diese FDP“ Verantwortung trage, sei es an der Zeit zu gehen.

Es gibt keine Alternative zu Christian Lindner. Foto: dpa

Es ist da schon klar, auf wen es hinausläuft. Christian Lindner ist der kommende Mann dieser außerparlamentarischen Opposition namens FDP. Jener Lindner, der im Dezember 2011 völlig überraschend als Generalsekretär seinen Dienst quittierte, weil aus seiner Sicht die Neuausrichtung der Partei damals viel zu langsam voranschritt. Er hat zwar seine Bereitschaft bekundet, den Parteivorsitz zu übernehmen, ist aber ein Kandidat wider Willen. Der Landeschef der FDP in Nordrhein-Westfalen hält sich für zu jung. Aber der 34-Jährige muss einsehen, dass es ohne seinen Einsatz jetzt womöglich keine FDP mehr gibt, wenn er sich dereinst erwachsen fühlen sollte. Wolfgang Kubicki ist noch als Alternative im Gespräch, aber der bereitet allen Spekulationen ein Ende, indem er bereits am frühen Morgen alles dafür tut, Lindner öffentlich ins höchste Parteiamt zu loben.

Lindner will Diskussionen über den Kurs zulassen

Als Lindner seine Bereitschaft vor den Journalisten dann offenbart, wirkt er noch immer erschrocken. Als sei er soeben einer Geisterbahn entstiegen. Er wolle die Partei „erneuern“ sagt er, habe in Nordrhein-Westfalen mit dem Wiedereinzug in den Landtag 2012 bereits bewiesen, dass er aus schier aussichtsloser Lage den Erfolg erzwingen könne. Er macht auch klar, dass kein Stein auf dem anderen bleibe. Deshalb werde es auch personell in der Parteiführung einen harten Schnitt geben. „Es wird eine sichtbare, für jeden wahrnehmbare Erneuerung geben, sonst würde man das Votum vom Sonntag nicht verstehen.“

Lindner will Diskussionen über den Kurs zulassen. Aber er wird bald den Korridor beschreiben müssen, in dem die Partei sich inhaltlich zu bewegen hat, wenn sie ihn als Chef haben will. Der Parteitag zur Europawahl, der im Januar stattfinden sollte, wird vermutlich vorgezogen, um Lindner wählen zu können. Es soll schnell gehen, bloß keine Chaostage, aber einen Sonderparteitag kann sich die klamme Partei kaum noch leisten. Lindners Gegner werden bis dahin nicht klein beigeben, jetzt, wo nicht mehr viel zu verlieren ist. Eurokritiker Frank Schäffler will, dass die FDP Wähler der Alternative für Deutschland zurückgewinnt. Den Wirtschaftsliberalen um den sächsischen Parteivize Holger Zastrow kommt Lindner viel zu sozialdemokratisch daher. Man kann nicht sagen, dass Lindner von Freunden umzingelt ist.

Juli-Chef Lasse Becker kann zu all dem eine schöne Geschichte erzählen. Als er 1999 in die FDP eintrat, warnte ihn sein Bruder: „Lasse, gib Acht! Auf einem sinkenden Schiff wird man schnell Kapitän.“ So ist es jetzt Lindner ergangen. Ihn drängen sie ans Steuer, das Schiff säuft gerade ab, aber seine Mannschaft streitet verbissen über den Kurs. Lindner nennt das „eine schwierige Aufgabe“. Andere nennen es „ein Himmelfahrtskommando“.