Auch der jüngste Roman der Nobel-Preisträgerin Olga Tokarczuk ist eine große Reise über Grenzen, durch viele Sprachen und Religionen. In ihrer Heimat Polen wird sie für die Bilderstürmerei in „Die Jakobsbücher“ kritisiert.

Stuttgart - „Durch Wüste und Wildnis“ heißt ein Abenteuerroman von Henryk Sinkiewicz, der 1905 als erster Pole den Literaturnobelpreis erhielt. Der unerschrockene Gang durch Wüste und Wildnis trifft auch auf das Werk Olga Tokarczuks zu, der nun rückwirkend der Literaturnobelpreis für das Jahr 2018 zugesprochen wurde. Spätestens seit sie im vergangenen Jahr für „Unrast“ den Man Booker Prize sowie den Schweizer Jan-Michalski-Literaturpreis erhielt, zählte Olga Tokarczuk zum Kreis der Stockholmer Favoritinnen. Damit ging die höchste literarische Auszeichnung zum sechsten Mal nach Polen – zuletzt 1996 an die Lyrikerin Wisława Szymborska.

 

Die 1962 in Sulechów (Züllichau) geborene Olga Tokarczuk lotet in ihrem bereits jetzt konventionelle Maßstäbe sprengenden Werk die Grenzen zwischen Religion und Moderne, Mystizismus und Aufklärung aus. Das beweist trefflich ihr jüngster Roman „Die Jakobsbücher“, der soeben in deutscher Übersetzung im Zürcher Kampa-Verlag erschienen ist. Nach dem Vorbild des Talmud ist die Lebensgeschichte des ketzerischen Messias Jakób Joseph Frank (1726-1791) von hinten nach vorne nummeriert, beginnt also auf Seite 1152. Das Eingangskapitel „Das Buch des Nebels“ setzt im Jahr 1752 im heute westukrainischen Rohatyn ein, das seinerzeit zum multinationalen Polnisch-Litauischen Großreich gehörte. Zehn Jahre hat Olga Tokarczuk für ihre enzyklopädische Gesamtdarstellung des 18. Jahrhunderts anhand einer exemplarischen Biografie recherchiert.

Bilderstürmerische Biografie

Die Autorin betrachtet ihr Opus magnum als „Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“, wie es eingangs heißt. Dass sie „Die Jakobsbücher“ ihren „Landsleuten zur Besinnung“ anempfiehlt, ist durchaus als Seitenhieb zu verstehen. Denn obwohl die 57-Jährige seit ihrem Debüt mit der Gedichtsammlung „Städte in Spiegeln“ und ihrem ersten Roman „Die Reise der Buchmenschen“ von 1993 in ihrer Heimat große Bekanntheit genießt, wurde sie für die „Jakobsbücher“ auch heftig angefeindet. Eine derart bilderstürmerische Lebensbeschreibung eines Ketzers steht dem klerikalen Klima in Polen diametral entgegen; trotzdem oder gerade deshalb entwickelte sich die reich illustrierte historische Saga zum Bestseller.

Die Stockholmer Jury lobt Olga Tokarczuks „erzählerische Imagination, die mit enzyklopädischer Leidenschaft die Grenzüberschreitung als Lebensform verkörpert“. Dieser Hang zur Grenzüberschreitung hat die mit 57 Jahren junge Preisträgerin nicht nur in längst vergangene Jahrhunderte geführt, sondern auch an die geografische Peripherie, etwa in ihrem moralischen Wald-Thriller „Der Gesang der Fledermäuse“ (Schöffling). Ihn hatte noch die 2013 verstorbene Doreen Daume übertragen, eine der besten Übersetzerinnen aus dem Polnischen hierzulande.

Trost in der Natur

Wie ihr 20 Jahre älterer Co-Preisträger Peter Handke sucht Olga Tokarczuk mit ihren oft verschrobenen Romanfiguren Trost und Erbauung in der Natur, fern von den Menschen. Nach dem Studium der Psychologie in Warschau, bei der ihr die Lehren des Analytikers Carl Gustav Jungs besonders wichtig wurden, arbeitete Tokarczuk zunächst als Therapeutin in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Jugendliche im schlesischen Wałbrzych. Seit gut zwanzig Jahren lebt sie in dem niederschlesischen Dorf Krajanów bei Nowa Ruda (Neurode) und in Breslau. Zeitweise betrieb sie einen eigenen Kleinverlag namens Ruta. Das von Stefanie Peter herausgegebene originelle „Alphabet der polnischen Wunder“ (Suhrkamp) erwähnt Olga Tokarczuk sowohl als Protagonistin der „Landbewegung polnischer Literaten“ als auch unter dem nicht ganz ernst gemeinten Stichwort „Deutschtümelei“. Denn in ihr Roman „E.E.“ spielt vor hundert Jahren im deutschen Breslau, wo die Hauptfigur Erna Eltzner als Medium Furore macht. „E.E.“ wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt, so wie Olga Tokarczuks rhapsodisches, stets weit in Historie und Mystik ausgreifendes Werk gerade für hiesige Leserinnen und Leser noch viele lohnende Überraschungen verheißt.