Die Oskar-Beck-Kolumne Wo Sammer, do Sammer
Borussia Dortmund würde unter Druck gerne dreckigen Fußball spielen – muss wieder ein Bandenchef wie Matthias Sammer her?
Borussia Dortmund würde unter Druck gerne dreckigen Fußball spielen – muss wieder ein Bandenchef wie Matthias Sammer her?
Stuttgart - Das ZDF-Sportstudio hatte nie einen virtuoseren Moderator als Harry Valerien, aber manchmal geriet auch der grandiose Bayer in Orientierungsnot. Er suchte dann hektisch die richtige Kamera, fuchtelte mit Händen und Füßen und sagte: „Wo sammer? Do sammer!“
Mit Matthias Sammer hat das eigentlich nichts zu tun, außer dass auch ein paar Leute bei Borussia Dortmund zur Zeit verzweifelt mit der Stange im Nebel stochern und rufen: Wo ist ein Sammer? Sie vermissen ihn, denn in seiner Blütezeit hat er als BVB-Bandenchef die brutalste Wahrheit des Fußballs einmal schonungslos ausgesprochen: „Wenn du auf dem Platz nicht eine Drecksau bist, kannst du bestimmte Situationen nicht lösen.“
Die Schweinsthese hat damals mächtig Staub aufgewirbelt. Scharen von Guterzogenen und Pastorentöchtern bekamen sie in den falschen Hals, sozusagen als Plädoyer für alle Strolche und was sonst noch an Pack herumläuft, und vielfach entstand sogar der Eindruck, jeder anständige Fußballprofi habe den Beruf verfehlt. Andererseits: Dortmund hat, wenn es um die Wurst ging, mit Sammers Philosophie meistens gewonnen.
Wenn es heute um die Wurst geht, wird dagegen aus einem 3:2 schnell ein 3:4, wie zuletzt in Leverkusen. Die Borussen spielen traumhaften Spaßfußball, bis er ihnen am Ende vergeht. Das Chaos bricht dann schlagartig aus, beim ersten Gegenwind kippt das Kartenhaus der Kleinkünstler zusammen – und kein Drecksack ist da, der die Dinge in Ordnung bringt. Emre Can hat das Problem erstmals am eigenen Leib verspürt. Er kommt von Juventus, das ist harte italienische Schule, man lernt dort, wie man einen Vorsprung über die Zeit trickst. Am Samstag riet Can seinen Dortmundern durchs Fernseh-Mikrofon ganz dringend: „Man muss, auf Deutsch gesagt, einfach dreckiger sein, auch mal Foul spielen.“
Die Nostalgiker in Dortmund werden heftig nicken und auf „Reset“ drücken. Sie sehnen sich zurück in die Zeit, als sie Meister und Champions-League-Sieger waren und ihr Kapitän Sammer sich einmal an der Seitenlinie mit ungefähr 47 Heftklammern die aufgeplatzte Stirn tackern ließ, seinen Dickschädel unter den Arm nahm und zurückrannte auf den Platz, um als Flammenwerfer wieder sein rotes Leuchtfeuer auf dem Kopf anzuzünden.
Sammer war der perfekte Bandenchef. Er war hinten Libero, außerdem Abräumer vor der Abwehr, Antreiber im Mittelfeld und überall Kommandeur, mehrfach ist er sich unterwegs selbst begegnet. Wenn es pressierte, ließ er Dampf ab und zeigte den Klosterschülern neben sich, wie man die zehn Gebote bricht. „Perfekt ist nur ein Fußball“, sagte er, „der Titel holt.“
Seinen ersten Bundesligatitel holte Sammer in Stuttgart. 1992 war das, und der VfB war im Derby gegen die Kickers kurz davor, die Meisterschaft zu verspielen. VfB-Manager Dieter Hoeneß stöhnte später: „Du schaust auf die Anzeigetafel, da steht 0:1, und es ist 17 Uhr.“ In dem Moment begann der Feuerteufel zu glühen, der Rotschopf lief Amok. Er raste, rempelte und riss Freund und Feind um, er legte sich mit allem an, was sich bewegte und machte das Neckarstadion zum kochenden Dampfkessel. 1:1. 2:1. 3:1. Sammer war wie Kino ab 18, nicht mehr jugendfrei. Aber der VfB wurde Meister.
Seither ist klar: Es gibt Situationen im Fußball, in denen das friedfertige Sozialverhalten nur noch die zweitbeste Lösung ist. „Anständig reicht nicht“, hat auch Udo Lattek eisern behauptet. Der alte Trainerguru sah es so: Ein Führungsspieler muss sich, um die Dinge zu kontrollieren, notfalls Menschen zunutze machen und zu unpopulären Maßnahmen greifen. „Das Sauhündische“, spürte Lattek, „darf nicht fehlen.“ In den Wühlkisten mit den Drecksackthesen findet sich auch Willi Schulz. Deutschlands rustikalster Ausputzer aller Zeiten, für den die Fans bei der WM 1966 das langgezogene „Williiii“ erfanden, erklärte als Schlachtenross auf Kohlenpottdeutsch: „Wommer ma sagen, da liegt ainer im Strafraum, und du bist nicht bereit, dem dä Kopp abzutreten, dann wirste kainer.“
Leitwölfe sehen oft aus wie Olli Kahn, also wie der Glöckner von Notre Dame. Ein Blick in seine Augen war wie der in die Mündung einer doppelläufigen Flinte. Kahns bloße Anwesenheit genügte, um die Gegner kleiner zu machen und die Mitspieler größer. Bei Stefan Effenberg überzeugte das pralle Selbstbewusstsein, und wegen des einschüchternden Verlaufs seiner Schädelachse war der Feind oft entscheidend gehemmt. Zwar bescheinigte Günter Grass ihm einen „Dummstolz in der Gestik“, aber jedenfalls war Effe kalt wie eine Hundeschnauze.
Der größte Bandenchef war zweifellos Paul Breitner. Der Bärtige hatte ein Näschen für die Strategie des kalkulierten Konflikts, er provozierte Mitspieler, um das Beste aus ihnen herauszukitzeln, und die Körpersprache des grimmigen Paule war eine Kriegserklärung an Gegner und Schiedsrichter. Diskret beschrieb es einmal Rudi Völler: „In der Mannschaft wissen natürlich alle, dass der Paul Breitner ein Arschloch ist, nur sagt es keiner offiziell.“
So oder so, Wortführer sind unbezahlbar. Wie wirksam sie bestenfalls auf den Tisch hauen, hat die Wiener Torjägerlegende Hansi Krankl vorgeführt, im historisch wertvollen „Nichtangriffspakt“-Spiel bei der WM 1982 in Gijon. Nach elf Minuten fiel damals das 1:0 für Deutschland, und für beide Teams war es das ideale Ergebnis zum Aufstieg in die Zwischenrunde, auf Kosten der bedauernswerten Algerier. Aus tabellarischen Vernunftsgründen erschien ein Schuss aufs Tor also beiderseits nicht mehr ratsam, und alle hielten sich dran, bis auf Walter („Schoko“) Schachner, den aufrechten Steiermärker. Irgendwann schoss er. Der deutsche VfB-Vorstopper Karlheinz Förster („Hei, Hansi!“) schaute seinen Gegenspieler Krankl darauf kurz und scharf an, worauf der sich Schachner bedrohlich vorknöpfte: „Schoko, wannsd’ dös no amol mochst...“ Das Spiel ging geordnet zu Ende.
Finden die Dortmunder wieder einen Sammer? „Wir brauchen Galligkeit“, forderte der damals in seiner glorreichen BVB-Zeit, und beim Giftspucken entglitt ihm sogar der zündende Satz: „Wenn ich am Ende oben stehe, können mich die Leute auch Arschloch nennen.“