Kultur: Tim Schleider (schl)

Aber all das ändert nichts an der Wirkungsmacht der internationalen Idee. Abgesehen von der Abschreckungsmacht der Militärbündnisse in West und Ost war es nach 1945 eben die Idee der Europäischen Union, die auf unserem Kontinent ein Friedenskonzept ermöglichte, weil sie Schritt für Schritt an die Stelle des nationalen Wettbewerbs und Wettlaufs um Macht und Ressourcen das Prinzip des übernationalen Ausgleichs und der gemeinsamen Projekte setzte. Und allen anderslautenden Anschauungen zum Trotz spielen just die Kleinen im Rahmen dieser Union eine viel größere Rolle und haben viel größere Chancen auf Mitgestaltung, als sie es allein und isoliert im großen Kreis der Nationalstaaten je könnten.

 

Der neu erwachte Nationalismus ist aber keineswegs nur die Losung der twitternden Multimillionäre, der Populisten à la Putin und Erdogan oder der neuen Rechten in Ungarn oder Polen. Der Angriff auf die westlichen Werte kommt auch von links. In die Debatten zu den Folgen der Globalisierung, zum Beispiel beim Freihandelsabkommen mit Kanada, und in die entsprechende Protestkultur haben sich Töne gemischt, die generell Stimmung gegen internationale Abkommen machen.

Nationalismus ist unbelehrbar

Natürlich würden sich solche Positionen niemals selbst nationalistisch nennen. Vertreter der Linken, aber auch Sprecher der Gewerkschaften oder der Grünen sprechen lieber von „nationalen Werten und Interessen“, die gegen „internationale, multilaterale Gleichmacherei“ zu verteidigen seien. In Aufsätzen in Denker-Magazinen à la „Cicero“ oder „Merkur“ liest man Behauptungen, es gebe eine Renaissance „nationalen Denkens“, das aber anders als früher „aufgeklärt und gemäßigt“ zu Werke gehe und auch einem multilateralen Zentralismus erfolgreich den Garaus machen werde. Die neu erstarkten Nationalstaaten wären dann endlich wieder Herr im eigenen Haus, sicher in eigenen Grenzen und könnten mit ihren berechtigten Interessen auf dem diplomatischen Parkett zum bilateralen Ausgleich untereinander antreten.

Dieses Konzept eines Wettbewerbs der Nationen war just die Arbeitsgrundlage Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Jagd auf Ressourcen mündete damals im Großen Krieg von 1914 bis 1918. Die Gefahren des grassierenden neuen Nationalismus sind nicht minder erschreckend. Europa und der Westen haben guten Grund, gegen ein America, Russia, Turkey oder Hungary First die Perspektive universaler Menschenrechte und eines multinationalen Pragmatismus aufrecht zu erhalten. Egal, wie modern er sich gibt: Nationalismus wird stets in Chauvinismus und Gewalt münden. Er kann nicht anders. Er ist aus Prinzip unbelehrbar.