Der Versuch der Demonstranten, das Parlament zu umzingeln, endet in einer blutigen Straßenschlacht. Tod und Zerstörung auf beiden Seiten beschwören die Stunde der Extremisten herauf. Und alle fragen sich: Was geht im Kopf von Janukowitsch vor?

Kiew - Unter der Säule, die mitten auf dem Maidan steht, verschanzen sich einige Dutzend Polizisten. Quer über den Platz, auf dem über Wochen Borschtsch und Tee gekocht wurde, ist in der Nacht zu Dienstag eine neue Front entstanden. Von Protestlerseite hagelt es Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails, die Polizei antwortet mit Blendgranaten und Gummigeschossen. Von der Bühne auf dem großen Platz erklingen Gebete von Priestern und verzweifelte Aufrufe zur Verteidigung, der Ruf „Kiew erhebe Dich“ schallt über den Platz. Neben der Bühne flackert im Gewerkschaftshaus immer wieder das Feuer auf – die meisten Etagen sind inzwischen völlig ausgebrannt. Einigen hundert Polizisten stehen am Mittwochnachmittag an die zweitausend bewaffnete Maidan-Aktivisten gegenüber. Geschäfte, Banken und Cafés im Umkreis von einem Kilometer sind geschlossen, die gesamte Kiewer Metro fährt am Mittwoch nicht. Es herrscht ein nicht erklärter Ausnahmezustand. Aber die Polizei kontrolliert die Situation, hält die Maidanaktivisten jetzt in Schach.

 

Wie konnte es dazu kommen, insbesondere nach dem Montag, als die Amnestie in Kraft getreten war und alle Zeichen auf Entspannung und Kompromiss standen?

„Friedlicher Marsch“ endet in blutiger Straßenschlacht

Am Dienstag war der von der Opposition als „friedlicher Marsch“ aufs Parlament angekündigte Demonstrationszug in eine blutige Straßenschlacht gemündet, bei der nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums 16 Demonstranten und 9 Polizisten getötet wurden. Es scheint, als hätte die Opposition sich verrechnet, und ja, sie trägt eine Mitverantwortung für die Opfer. Es war völlig klar, dass Tausende bewaffnete Aktivisten, die sich auf das Parlament zubewegen, eine Gegenreaktion der Polizei hervorrufen würden – alle Zufahrtsstraßen zum Parlament waren seit Wochen blockiert. Das Umzingeln des Parlaments von allen Seiten sollte die Abgeordneten der Regierungspartei dazu zwingen, endlich einen Antrag über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 abzunicken. Aber ein Einknicken vor dieser Drohkulisse wäre einer Kapitulation gleichgekommen. Stattdessen schlug die Staatsgewalt brutal zurück und trieb die Demonstranten zurück auf den Maidan.

Eine starke Polizeikette teilt den Platz tagsüber. Foto: EPA

Warum Viktor Janukowitsch nicht bis zum Ende ging und den Maidan nicht am Dienstagabend vollständig auflöste, als es ohne weiteres möglich gewesen wäre, gehört zu den Rätseln, die dieser Mann seit Monaten aufgibt. Dabei wandte er sich in dieser Nacht mit klaren Worten an die Nation: Er beschuldigte die Opposition, mit dem Aufruf zum „Marsch auf das Parlament“ die Gewalt provoziert zu haben. Bei einem Treffen forderte er die Oppositionsführer auf, die Menschen vom Maidan zu holen.

Die 28-jährige Tanja aus dem Gebiet Wolhynien ist in der Nacht zum Mittwoch auf den Platz gekommen, zum vierten Mal seit Beginn der Proteste. „Ich habe den ganzen Tag ferngesehen, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin mit Freunden zusammen losgefahren“, sagt die junge Frau, während sie in einem Sack wühlt, ein paar Meter von den brennenden Barrikaden entfernt, und am Ende einen passenden Helm aussucht und ihn aufsetzt. „Wissen Sie, wenn ich hier auf dem Maidan bin, habe ich plötzlich ein ganz anderes Gefühl. Das Leben habe einen tieferen Sinn, sagt sie. Eigentlich arbeitet Tanja als Masseurin. War es ein Fehler der Opposition, den Maidan zu verlassen und Janukowitsch die Pistole auf die Brust zu setzen? „Es gab keine Alternative“, ist Tanja überzeugt. „Die Menschen stehen seit drei Monaten hier, und sie wollen jetzt endlich Ergebnisse. Zur Not mit Gewalt.“ Doch jetzt stehen die Menschen mit dem Rücken zur Wand.

Die Gegenwehr ist erbittert. Foto: EPA

Die Brände der Nacht sind noch immer Diskussionsthema. Ein Mann an die 40 mit rußverschmiertem Gesicht schimpft auf die „Sabotage“ von Seiten der Staatsmacht: „Die haben sich ins Gebäude geschlichen und Feuer gelegt, um uns abzulenken. Aber es wird uns nicht aufhalten“, schimpft er. Das Innenministerium dagegen beschuldigt die ehemaligen Bewohner des Hauses der Brandstiftung: Das Gewerkschaftshaus, direkt am Maidan gelegen, war der Rückzugsort für die radikalsten Maidanaktivisten wie den „Rechten Sektor“. Und es war nach dem Verlassen des Rathauses der letzte Rückzugsort für die Aktivisten. Jetzt ist es eine qualmende Ruine.

Den Soldaten ist der Schrecken ins Gesicht geschrieben

Vor dem Eingang des Hotels „Ukraina“ am oberen Ende des Maidan-Platzes ruhen sich die Polizisten der Spezialeinheit „Berkut“ und die Soldaten der Truppen des Innenministeriums aus: Im Unterschied zu den „Berkutowzy“ sind es 18, 19 Jahre alte Bubis, die ihren Wehrdienst ableisten, und ihren unter dem Ruß bleichen Gesichtern sieht man den Schrecken über den Bürgerkrieg an, in den sie nun geraten sind. Die einen schlafen im Sitzen, andere liegen auf Styroporplatten. Bei einigen ist die Kleidung vom Feuer der Molotow-Cocktails verbrannt. Andrej, ein 29 Jahre alter Offizier aus Lugansk, befehligt eine Einheit dieser Wehrdienstleistenden, „Srotschniki“ genannt. „Drei von uns sind mit Schusswunden ins Krankenhaus eingeliefert worden“, sagt er und zeigt die Einschusslöcher in den Schutzschilden seiner Untergebenen. Klar, möglich wäre auch, dass die in diesem Krieg der Bilder selber gemacht sind. Aber seit dem Aufruf des „Rechten Sektors“ vom Dienstag, mit Schusswaffen auf den Maidan zu kommen, bestehen keine Zweifel mehr daran, dass manche auch hier zum Äußersten bereit ist.

Ginge es nach Andrej, hätten die Ordnungskräfte den Protest am Dienstag aufgelöst, mit einer Attacke von allen Seiten. Und warum ist es nicht passiert? „Da müssen Sie die Generäle fragen“, antwortet Andrej. Es klingt frustriert. Er ist seit zwei Monaten im Einsatz und hofft auf ein schnelles Ende. „Ich kämpfe hier nicht für Janukowitsch, aber auf der anderen Seite gibt es gewalttätige Nazis, mit denen man nicht verhandeln kann.“ Andrej weiß, wovon er spricht: Seine Einheit stand am Dienstag an der Schowkowitschna-Straße, die von den Demonstranten attackiert wurde. Damit begann die Gewalt.

Bürger brechen Pflastersteine aus dem Boden. Foto: EPA

Dort stand zur gleichen Zeit auch Anatolij Liptuga, 64 Jahre alt, Physiker von Beruf. „Ich merkte, dass mir mein Herz Probleme machte und fuhr nach Hause. Aber die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, sondern vor dem Fernseher gesessen“, sagt er. Liptuga und sein Freund Sergej Pjazko sind das Ebenbild sowjetischer Intellektueller: Beide mit Schiebermützen, Vollbart und Brille. Aber seit dem frühen Mittwochmorgen tun die beiden etwas vollkommen Unintellektuelles: Mit einer Eisenstange zerhacken sie Pflastersteine zu handlichen Brocken, die von einer älteren Frau sackweise an die Frontlinie getragen werden. „Zwei Monate standen wir friedlich, und das Regime hat uns gesagt: Steht doch weiter. Aber es passierte nichts“, erklärt Liptuga. So rechtfertigt er auch den Marsch auf das Parlament. Deshalb kann er auch über die Aufrufe der EU, die Krise „im Rahmen der Gesetze“ zu lösen, nur müde lächeln. „Dieses Regime werden wir mit gesetzlichen Methoden nicht mehr los“, ist er überzeugt.