Kinder sagen, was sie denken. Das ist für Eltern manchmal peinlich, manchmal entlarvend – aber sie können auch jede Menge dabei lernen.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Was tut man nicht, um den Alterungsprozess zu kaschieren. Make-up, Haartönung, Halstücher, gekonnt eingestreute Jugendwörter („Echt nice hier, Digga!“). Alles umsonst, wenn sich der kindliche Röntgenblick auf einen richtet: „Mama, deine Hände sehen aus wie die einer alten Frau“, sagt der Sohn beim abendlichen Vorlesen.

 

Die Mutter nimmt es äußerlich maximal gechillt – und überlegt gleichzeitig, ob Karl Lagerfeld nicht wie immer recht hatte, als er ab einem gewissen Alter konsequent in Handschuhen auftrat. Kinder sagen, was ihnen durchs Köpfchen schwirrt. Das bringt Eltern nicht nur in Bezug auf die eigene Person schon mal in die Bredouille.

Es war vor ein paar Jahren, man saß mit Kind in der U-Bahn. Irgendwann klammerte es sich an einen, zeigte entsetzt auf eine ältere Frau und rief quer durch den Waggon: „Mama, da sitzt eine Hexe!“

Der Busen fühlt sich komisch an

Schön auch das Café-Erlebnis einer Bekannten. Das Kind auf ihrem Schoß fasste ihr an den Busen und fragte sehr laut: „Was ist da drin, das fühlt sich komisch an!“ Sie trug einen gepolsterten BH. Was macht man nun? Die U-Bahn-Peinlichkeit löste sich auf, weil die gemeinte Frau darüber laut lachen konnte. Den unschuldigen Busengrapscher saß die Mutter einfach stoisch aus.

In jedem Fall lehrt die kindliche Ehrlichkeit Eltern einiges über das eigene Peinlichkeitsempfinden, das doch nichts anderes ist als die verinnerlichte Norm dessen, was sich angeblich gehört und was nicht.

Mit Kindern ist einem irgendwann gar nichts mehr peinlich – kein fäkalienlastiges Gespräch, keine von Fettfingern oder Milchspuckespritzern bekleckste Bluse im Büro – das kann auch eine Befreiung sein. (Außerdem hilft vielleicht die Gewissheit, dass es spätestens ab der Pubertät umgekehrt sein wird, dass man dann nämlich als Eltern den Kinder oft wahnsinnig peinlich sein wird.)

Ein ehrlicher Blick ins alte Gesicht

Und warum sollte man auch nicht ganz schamlos im Café über Brüste und passende Büstenhalter sprechen? Worauf die Frauenbewegung seit 60 Jahren – offenbar noch nicht erfolgreich – hinarbeitet, das schafft das Kleinkind mit einer unbedarften Geste.

Überhaupt können Kinder mit einem Satz die großen und kleinen elterlichen Defizite offenlegen. Nach dem Satz über die alternden Hände muss sich die Mutter halt selbst fragen, wann sie sich endlich mal ehrlich – und vielleicht sogar versöhnlich – ins alternde Gesicht blicken will.

Kinder funktionieren wie ein überscharfer Spiegel für Erwachsene. Eine Freundin ging mit ihrer Tochter im Kindergartenalter die Straße entlang. Plötzlich sagte das Kind: „Guck mal, Mama, da ist eine Putzfrau!“, und blickte zu einer Frau auf der anderen Straßenseite, die ein Kopftuch trug. Für die Mutter war spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen, darüber nachzudenken, wie Stereotype eigentlich entstehen und welche sie an ihre Kinder unbewusst schon weitergegeben hat.

Das Schönste und Tröstlichste an dieser Ehrlichkeit ist allerdings, dass man sich bei Kindern immer ganz sicher sein kann: ihrer Komplimente, ihrer Abneigung, ihrer Liebe. Wenn die Tochter meint: „Du siehst schön aus“, dann sagt sie das ja nicht nur so. Dann ist das so.