Die Scorpions haben in der Stuttgarter Schleyerhalle ihre Deutschlandtournee eröffnet. Eigentlich wollte die Rockband aus Hannover ihre Karriere schon längst beendet haben – aber sie macht nicht grundlos weiter.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Nun könnte man natürlich feixen. Über einen 67-jährigen ehemaligen Auslieferungsfahrer aus Langenhagen, der in einer seit Jahrzehnten ausgestorben gewähnten Jeansjacke mit abgeschnittenen Ärmeln und Sonnenbrille auf der Bühne steht. Über einen ebenfalls 67-jährigen gelernten Starkstromelektriker aus der Nähe von Hildesheim, der seit Jahrzehnten ausgestorben gewähnte Flying-V-Gitarren bedient. Und über einen sechzigjährigen ehemaligen Jurastudenten aus Hannover, der diese härtere Rockmusik fabrizierende Band auf der Bühne komplettiert. Aber damit würde man der Sache natürlich nicht gerecht.

 

Denn niemand würde sich umgekehrt bei Leonard Cohen, Tony Bennett oder Mikis Theodorakis darüber wundern, dass diese allesamt über achtzigjährigen Musiker nach wie vor der Populärmusik verhaftet sind. Wir sind eben alle nicht jünger geworden, und somit muss man im Jahr 2016 auch als Selbstverständlichkeit anerkennen, dass sich Menschen rund um das Renteneintrittsalter noch immer oder immer noch für Hardrock oder Metal oder Softmetal oder irgend etwas dazwischen interessieren und dies mit Inbrunst trotz mehrfacher Abschiedsbekundungen weiterhin zelebrieren wollen.

Kein Abschied auf Raten

Vor sechs Jahren nämlich standen die Scorpions auf der Bühne der Schleyerhalle, um dort das Stuttgarter Farewell-Konzert ihrer Abschlusswelttournee zu spielen. Vor vier Jahren standen sie dann auf der Bühne der Schleyerhalle, um ihr erstes Konzert nach der Abschiedstour zu geben, vor zwei Jahren folgte ihr zweites, und nun am Montagabend zum Deutschlandtourneeauftakt ihr dritter Auftritt nach dem verkündeten Karriereende. Diesen Entschluss hat die Band aus Hannover längst widerrufen müssen, zwischenzeitlich haben die Herren sogar im vergangenen Jahr ein frisches Album veröffentlicht. Aber auch das ist selbstverständlich in Ordnung.

„Return to forever“ heißt das Werk, Nomen könnte hier fast Omen sein, das darauf befindliche Stück „Going out with a Bang“ eröffnet auch den Abend in der Schleyerhalle. Zwei weitere Stücke von diesem Album folgen im Konzertverlauf, ein viertes wird mittendrin in einem kleinen akustischen Medley versteckt, dazu gesellen sich ein paar ältere Nummern und selbstredend die größten Hits der Band. Die Scorpions legen die Konzertdramaturgie also exakt so an, wie es fast jede andere Band fast immer ebenso macht. Aber das ist ja ebenfalls völlig normal.

Ihr Klassiker „The Zoo“ kommt bald nach Beginn, „Wind of Change“ gegen Mitte des Konzerts, kurz vor dem großen Finale ein ausuferndes Schlagzeugsolo des US-amerikanischen Scorpions-Drummers James Kottak, und dann vier Evergreens in Folge: „Blackout“ und „Big City Lights“ vor der Zugabe, „Still loving you“ und „Rock you like a Hurricane“ in selbiger.

Die beiden Gitarristen Matthias Jabs und Rudolf Schenker verzichten im Gegensatz zu den vorangegangenen Abschiedskonzerten auf üppige Soloeinlagen, ohnehin wirkt alles bei dieser Show – inklusive dem gut mitgereiften Publikum – etwas weniger orgiastisch als bei den letzten Gastspielen. Das sehr knapp bemessene Konzert ist nach gut achtzig Minuten auch schon vorbei; die Stuttgarter Schleyerhalle ist diesmal mit knapp zehntausend Besuchern zwar gut gefüllt, aber auch bei weitem nicht ausverkauft.

Alles etwas gereifter

Auflösungserscheinungen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, sollte man da jedoch nicht herauslesen. Die Lichtregie mit wahrlich groß dimensionierten Videowänden ist in der Schleyerhalle vorzüglich, der Sound von so an dieser Stelle immer wünschenswerter Transparenz, und die drei Musiker aus Hannover, ihr – seit zwanzig Jahren – amerikanischer Schlagzeuger und ihr – seit bald fünfzehn Jahren – polnischer Bassist Pawel Maciwoda versprühen eine beneidenswerte Vitalität und Spielfreude.

Klar, die Scorpions sind bekanntlich nicht die wesentlichen Triebfedern bei der Fortdrehung des musikalischen Rads; auch die leidenschaftlich vorgebrachten Rockerposen der ganz alten Schule, der kleine Pyrotechnikfirlefanz (Schenkers rauchende Gitarre!), die – doch, ja – Umkleide- und Entkleidepausen und die laszive Dame zu „Big City Nights“ auf der Videowand müssen nicht jedermanns Ding sein. Umgekehrt sind die Scorpions nicht grundlos die nach wie vor weltweit bekannteste deutsche Band, die eine Welttournee nach der anderen absolviert (noch immer in den großen Arenen) und deren Songs sich seit Jahrzehnten in die Herzen der Menschen eingebrannt haben, insbesondere bei vielen Menschen jenseits des einstigen Eisernen Vorhangs mit dem „Wind of Change“.

„Rock & Roll forever“ steht auf einem der T-Shirts des Sängers Klaus Meine geschrieben, der leicht berserkerhafte Schlagzeuger James Kottak hat sich den Slogan sogar in deutlich sichtbaren Lettern auf den kompletten Rücken tätowieren lassen. Zeigefreudig, wie er nun mal ist, lässt er in der Schleyerhalle auch die Besucher daran teilhaben. Und das abermals im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Das Lebensmotto haben sich der Kraftfahrer Meine, der Starkstromelektriker Schenker (seit der Bandmitgründung vor 51 Jahren), der Jurastudent Jabs und ihre beiden Mitstreiter zu Herzen genommen. Nebenher sind sie reich und berühmt geworden, haben weit über hundert Millionen Schallplatten verkauft und angeblich fünftausend Konzerte gegeben. Es gibt schlimmere Lebenswege.