Hans-Jörg Bullinger, der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, erläutert anlässlich der Jahrestagung, wie sich Forscher das Leben in zukünftigen Städten vorstellen.
07.05.2012 - 22:43 Uhr
Stuttgart Die Fraunhofer-Gesellschaft veranstaltet in Stuttgart ihre Jahrestagung. Im Zentrum der Veranstaltung stehen Preisverleihungen und Wahlen. Der Stuttgarter Hans-Jörg Bullinger, seit zehn Jahren Präsident der größten Organisation für angewandte Forschung in Europa, wird im Herbst sein Amt abgeben.
Herr Bullinger, das Motto der Fraunhofer-Jahrestagung ist „Leben und Arbeiten in der Morgenstadt“. Das klingt nach Science Fiction. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Als Stuttgarter: Stuttgart 21, ergänzt um ein paar andere Projekte (lacht). Im Ernst: die Morgenstadt, die Stadt von morgen, stellen wir uns als eine möglichst CO2-freie oder sehr viel CO2-ärmere Stadt vor. Wir stellen sie uns als energieeffizient mit erneuerbaren Energien versorgt vor, und als eine Stadt, in der neue Schnittlinien zwischen Arbeiten und Leben durchdacht worden sind. Das Ziel in dieser Stadt ist nicht mehr unbedingt die Arbeit von 8 bis 17 Uhr, plus-minus Gleitzeit. Es gibt in dieser Stadt Arbeitsorte in Fabriken, die nicht emissionsgefährdet sind oder keinen Lärm mehr machen.
Und das geht?
Wir haben so etwas gerade am Beispiel der Firma Wittenstein in Fellbach gezeigt. Wir wollen also Städte, in die wir die Arbeitsorte wieder hinein holen. Alle diese neuen Entwürfe stellen wir uns vor. Aber ich will nicht verhehlen, dass die Debatte darüber in der Hightech-Kommission der Bundesregierung entstanden ist. Dort ging es beim Thema Energie darum: wie nehmen wir die Bürger mit? Insofern war mein Hinweis auf Stuttgart 21 keine reine Ironie. Eine der Überlegungen in der Kommission war, dass wir Leuchtturmprojekte brauchen. In der Energiefrage nimmt man die Bürger am besten mit, wenn man sie dort anspricht, wo sie selbst betroffen sind, mit dem Thema Energie zu Hause.
Sie haben einmal gesagt: „Wir müssen aus Autostädten wieder Menschenstädte machen.“ Das hört sich nach einem großen Umbauprogramm an.
Dazu muss man berücksichtigen, dass in Deutschland der Umbau der Städte bis zu einem Jahrhundert, auf jeden Fall aber Jahrzehnte dauert. In der Zwischenzeit ändern sich die Technologien des Häuserbaus, der Energieversorgung, der Steuertechnik. Wir müssen uns überlegen, wohin wir die Städte entwickeln müssen, damit wir mit der jeweils besten Technologie das Ziel erreichen. Pilotprojekte gibt es, in Deutschland, aber auch im Ausland. Zum Beispiel haben wir ein großes Projekt in Masdar City. Das ist auf dem Weg von Abu Dhabi Flughafen nach Abu Dhabi. Dort soll in der Wüste eine Stadt für 40 000 Menschen entstehen. Für 10 000 ist sie fertig. Im Mittelalter mussten Sie ihr Pferd am Stadttor abgeben. In Masdar City müssen Sie das Auto abgeben und werden mit unbemannten Elektrofahrzeugen transportiert. Meine Botschaft lautet nicht, dass dies die Lösung sei, sondern dass wir überlegen müssen, wohin wir wollen, und dass wir dann den Umbau beginnen müssen.
Haben Sie ein Beispiel, wohin wir wollen?
Der größte Bedarf entsteht durch die Energiewende. Es geht ja nicht nur darum, dass wir neue Leitungen von der Nordsee in den Süden ziehen. Wenn eines Tages jedes Haus ein kleines Kraftwerk ist, weil es mehr Energie erzeugt als es braucht, dann haben wir viele Einspeiser und viele Nutzer. Dazu müssen viele neue Netze geschaffen werden. Also es geht bei der Energiewende auch darum, wie wir städtische Infrastrukturen darauf vorbereiten. Bei unserer Tagung geht es aber nicht nur um die Energiewende. Wichtig ist, dass wir uns ganz andere Schnitte zwischen dem Arbeiten und dem Leben vorstellen können – mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik sowie mit Fabriken, die keinen Gestank und Lärm mehr machen.
Haben Sie unter dem Motto Morgenstadt die großen Themen zusammengefasst, mit denen sich die Fraunhofer-Gesellschaft in der Zukunft beschäftigen wird?
Das haben wir nicht. Es gibt eine Fraunhofer-Strategie, in der wir unsere Projekte für Übermorgen definiert haben. Viele Fraunhofer-Entwicklungen spielen darin eine Rolle. Auf der Tagung stellen wir aber Forschungspreise in den Vordergrund. Die Preisträger des Hugo-Geiger-Preises, des Wissenschaftspreises des Stifterverbandes und des Joseph-von-Fraunhofer-Preises stellen die Inhalte ihrer Arbeiten vor. Die Preise haben alle direkt oder indirekt mit dem Leben und Arbeiten in modernen Umgebungen zu tun. In einer kurzen Einleitung, die ich geben darf, werden mit Videospots Themen angerissen, die in der Morgenstadt eine Rolle spielen: Mobilität, Energieversorgung, Sicherheitsfragen.
Kommen wir zu Ihnen persönlich: Diese Jahrestagung ist für Sie die letzte als Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft.
So ist es. In der Fraunhofer-Gesellschaft werden die Präsidenten und die anderen Vorstandsmitglieder für fünf Jahre gewählt, und es ist üblich, dass nur eine Verlängerung stattfindet. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Was einem in zehn Jahren nicht einfällt, fällt einen vermutlich auch in fünfzehn nicht ein.
Schauen wir nach vorne: Gibt es eine Botschaft, die Sie ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin mitgeben wollen?
Es gibt eine Botschaft, an der wir arbeiten müssen. Wir haben damit schon vor 17 Jahren in der Fraunhofer-Gesellschaft begonnen. Es ist sicher ein Irrtum zu glauben, dass Forschungseinrichtungen die letzten sind, die sich am internationalen Markt messen lassen müssen. Wenn alle Firmen internationaler werden, wenn Grenzen durchlässiger werden, dann wird man auch uns in der Forschung fragen: Wenn ihr so gut seid, dann erklärt uns doch bitte, warum ihr keine Aufträge aus dem Ausland bekommt. Wir bei Fraunhofer haben daran frühzeitig zu arbeiten begonnen. Eine der wichtigen Aufgaben der Zukunft wird sein, dass wir diesen Internationalisierungsprozess, vorzugsweise in Europa, aber auch darüber hinaus, vorantreiben müssen. Bei Fraunhofer kommen heute schon von den eigenen Industrieeinnahmen fast 20 Prozent aus dem Ausland. Wir beginnen also nicht bei null. Aber wir müssen die Anstrengungen intensivieren.
Es gibt ja bereits Fraunhofer-Institute auch außerhalb Deutschlands.
Wir haben in den USA fünf Center, die sehr erfolgreich arbeiten. Wir haben weitere in anderen Regionen. Dass wir ins Ausland gehen, hat ja nichts damit zu tun, dass wir das Fraunhofer-Modell über die Welt ausrollen wollen. Aber in dem Maße wie unsere Kunden internationale Geschäfte betreiben, würden sie uns in Deutschland gar nicht mehr ernst nehmen, wenn wir nicht eigene Erfahrungen gesammelt hätten, möglichst mit Menschen aus diesen Regionen, in denen sie ihre Projekte machen wollen.