Langsam, aber unaufhaltsam hat sich Sandra Gerling in die erste Reihe des Petras-Ensembles am Stuttgarter Schauspiel geschoben: Ihre Verwandlungskunst zeigt sie in diesen Tagen wieder in „Osage County“ und im „Paradies der Damen“.

Stuttgart - Sie sei hypermotorisch, sagt sie, schon immer gewesen. Und ums Versehen klettert sie auf den hinter Büschen vorm Stuttgarter Staatstheater versteckten „Schicksalsbrunnen“, um für den Fotografen zu posieren. Wie eine Katze balanciert sie über den Sims, geschmeidig und in einem rätselhaften Sinne instinktiv, denn wenn sie mit der steinernen Schicksalsgöttin zu kuscheln anfängt, ist die Verblüffung groß. Kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, scharf geschnittener Nase, vollem Mund und mandelförmigen Augen: Sandra Gerling hätte Modell für die allegorische Skulptur stehen können, freilich nicht nur wegen der physiognomischen, auch wegen der professionellen Verwandtschaft, die hier offenkundig vorliegt. Auch sie fungiert ja als eine Art Schicksalsgöttin: Auf der Bühne herrscht die Schauspielerin über Freud und Leid ihrer Figuren. Und je mehr Jahre ins Land ziehen, desto souveräner und virtuoser versieht sie ihr Schicksalsgeschäft.

 

Mit dem Intendanten Armin Petras ist Gerling vor anderthalb Jahren nach Stuttgart gekommen. In acht Inszenierungen ist sie seitdem zu sehen gewesen, derzeit probt sie die neunte: „Im Stein“ nach dem Roman von Clemens Meyer. „Ein irres Ding“, sagt die 1980 in Paderborn geborene Darstellerin zu dem im Leipziger Rotlichtmilieu der Nachwendezeit angesiedelten Stoff. Ein irres Ding könnte auch die Zusammenarbeit mit Sebastian Hartmann wieder werden, mit dem sie bereits die Marathon-Sitzung „Staub“ absolviert hat. Als eines von drei Nummerngirls konnte sie in der sinnfrei verjuxten Inszenierung allerdings nicht zeigen, zu welcher Kunst der Menschendarstellung sie fähig ist. In „August: Osage County“ von Tracy Letts, das an diesem Mittwoch und Samstag wieder im Schauspielhaus läuft, ist das anders. Unter der Regie von Stephan Kimmig sieht man ein starkes Ensemble am Werk, doch als stärkste und eindringlichste von allen erweist sich Gerling: Ihre in Sehnsucht verhärmte Ivy Weston ist die Entdeckung des Abends.

Im Schmerz vereint, in Wut entzweit

„Ich mag Figuren, die widersprüchlich sind“, sagt die 34-jährige Spielerin, der man die Herkunft aus dem Ostwestfälischen satzmelodisch noch immer anhört, „Figuren, in denen neben Tragik auch Komik lauert“ – wie bei der linkischen Ivy, die sich als jüngste von drei Schwestern mit der krebskranken, tablettensüchtigen und von Astrid Meyerfeldt als Tyrannin verkörperten Mutter herumschlagen muss. Es ist Hassliebe, mit der Ivy an Violet gekettet ist – und wenn Gerling gemeinsam mit Meyerfeldt zu einem Schmerzenssong über die Bühne tobt, weil das Familienoberhaupt das Weite gesucht hat, lässt sie ihren ambivalenten Gefühlsmix förmlich explodieren. Noch während des Pogo-Tanzes zeigt sie mit beiden Händen ostentativ auf ihre unter Drogen stehende, ob des Verlusts außer Rand und Band geratene Mutter: Seht her, die Alte ist wahnsinnig, sagt sie mit ihrer Verachtungsgeste. Ivy und Violet: in Schmerz und Verzweiflung vereint, doch in Wut entzweit.

Als wäre das noch nicht genug, stürzt Gerling ihre Figur obendrein in eine zartbittere Tragikomik. Lieben, stil- und formgerecht, muss Ivy erst noch lernen, weshalb sie sich wie Buster Keaton dem tolpatschigen Little Charles des Sebastian Röhrle nähert. Aus den Begegnungen des Paars kitzelt sie nun Stummfilm-Skurrilitäten, die in der passagenweise lauten Inszenierung leise ans Herz greifen: Ivys Unsicherheit und Unbeholfenheit ist so groß, dass ihre heimliche Liebe zum Scheitern geradezu verdammt ist. Sah man Gerling zu Beginn von „Osage County“ noch verstockt wie ein Stein, öffnet sie sich am Ende für eine aus allen Poren schwitzende Verzweiflung – eine Entwicklung, die keineswegs vorhersehbar ist, aber von furioser Darstellung beglaubigt wird.

Federball mit Tschechow

„Ich spiele Ivy sehr gerne. In dieser Rolle kann ich bei mir bleiben, ich muss da nichts behaupten“: Charaktere darstellen, die ihr zumindest im Ansatz vertraut sind, sieht sie als Voraussetzung für ihre Arbeit. Wie aber gelingt die Identifizierung mit unterschiedlichen Figuren? „Bei der Rollenaneignung“, da haben wir’s wieder, „lasse ich mich meistens von Instinkten leiten.“ Ihre Methode bestehe darin, keine zu haben: „Manchmal regt mich die Atmosphäre an, die ein Regisseur schafft, die Visionen, die er entwirft. Manchmal ist es die Klarheit der Ansagen, manchmal auch die Freiheit, die er mir lässt. Die Freiheit bringt aber nur etwas, wenn ich weiß, wohin ich mit der Figur will“ – und wenn Gerling solche Sätze sagt, liegt es nicht nur am erotisch verhauchten Singsang, dass man ihnen Glauben schenken mag. Es liegt auch an ihrer Präsenz auf der Bühne. Dort drückt sich die Methodenvielfalt in der Rollenvielfalt aus, mit der sie in Stuttgart seit Herbst 2013 überzeugt.

Ihren Einstand hat sie an jenem Wochenende gegeben, als auch Petras seine Intendanz eröffnete. Spielend, Federball spielend mit den Zuschauern in den Vorderreihen stellte sich Gerling im Schauspielhaus vor. Das war in Tschechows „Onkel Wanja“, inszeniert von Robert Borgmann, wo ihre Elena Andrejewna über dem knappen Bikini eine US-Flagge trug und der russischen Landgesellschaft nicht nur als laszive Verheißung von Freiheit und Reichtum erscheinen musste. „Das transparente Kostüm machte mir Angst: Muss ich da nicht gegen ein Bitch-Image anspielen? Wie soll ich es damit bloß schaffen, meiner Elena ein Geheimnis zu verleihen?“, erinnert sich Gerling, der dann genau das gelungen ist: Sie befreite ihre Professorengattin von der Flittchen-Assoziation, indem sie unerbittlich zum Schmerzpunkt der in ihrer Ehe versackten, ums Leben betrogenen Frau vordrang. Gerling rang um Wahrheit und trug ihren Teil dazu bei, dass „Onkel Wanja“ im vergangenen Jahr beim Berliner Theatertreffen gastieren durfte.

Stuttgarter Schicksalsgöttin

Dieses Stuttgart-Debüt war ein Versprechen, das sie seitdem nicht immer, aber doch immer wieder eingelöst hat. Nicht nur in „Osage County“, auch im „Paradies der Damen“, das am Sonntag im Nord auf dem Programm steht. Gerling schenkt darin der kleinen Verkäuferin Denise Baudu ein großes Herz: unbestechlich, hilfsbereit und tugendsam, weil es ihre menschliche Natur so will. Oder ihr Instinkt. Die Inszenierung an sich ist matt, aber Denise leuchtet aus dem Einerlei hervor, als käme sie von einem anderen, besseren Stern – noch ein Kunststück der Verwandlungskünstlerin, von deren Hypermotorik auf der Bühne nichts zu sehen ist. Dort redet sie, anders als privat, keineswegs mit Händen und Füßen. Dort erfüllt sie ihren Job mit höchster Sprech- und Körperdisziplin. Denise Baudu, Elena Andrejewna, Ivy Weston: Sandra Gerling ist die neue Stuttgarter Schicksalsgöttin, zumindest die derzeit amtierende.