New York, Hamburg, Montréal - bereits als Schülerin hatte Rocio Aleman viele Angebote. Dass sich die Mexikanerin für Stuttgart entschieden hat, empfindet sie heute als großes Glück.

Stuttgart - Der Erfolg des Stuttgarter Balletts hat unter anderem damit zu tun, dass Intendant Reid Anderson seinen Nachwuchs quasi vor der Tür in der John-Cranko-Schule findet. Von dort stieß 2011 auch die Mexikanerin Rocio Aleman zur Kompanie; die einstige Elevin tanzt heute als Halbsolistin und freut sich, nachdem sie durch eine Verletzung im vergangenen Jahr ausgebremst wurde, über eine Auszeichnung, die ihr das mexikanische Erziehungsministerium am Anfang der Saison verliehen hat.

 

Nicht erst dieser Premio Nacional de la Juventud, sondern bereits der Sprung von der Elevin zur Gruppentänzerin des Stuttgarter Balletts war den Medien in Monterrey, der Heimatstadt Rocio Alemans, umfangreiche Berichte wert. Die Bilder und ein Film dazu, bis heute auf Youtube zu sehen, stellen die Mexikanerin bei der Arbeit im Stuttgarter Ballettsaal als hoch konzentrierte Tänzerin vor, die das tägliche Training mit beseelter Armführung zur Kunst adelt. Zerbrechlich wirkt ihr feingliedriger Körper in diesen klassischen Bewegungen. Doch die Aufnahmen des Fotografen Carlos Quezada, auf die man ebenfalls vielfach im Internet stößt, inszenieren die Mexikanerin als starkes Muskelpaket – auch als solches war und ist sie auf der Stuttgarter Ballettbühne häufig zu erleben.

Sie hat die Stuttgarter Traumrollen im Blick

Von Forsythes „workwithinwork“ bis zu Kyliáns „Vergessenes Land“, von athletisch bis expressiv, von klassischer Eleganz bis zu gegenwärtigem Suchen: Selbst im Schnelldurchlauf wird das Potenzial Rocio Alemans überdeutlich, wenn sie das Feinnervige in Goeckes „Spectre de la Rose“ zum Pulsieren bringt, wenn sie mit fast schwebend leichtem Tanz erzählt, wie John Cranko die Bianca in „Der Widerspenstigen Zähmung“ als Everybody’s Darling zeichnete.

Sehr früh in ihrer Karriere durfte Rocio Aleman für eine Gala in Mexiko einen Pas de deux aus Crankos „Romeo und Julia“ einstudieren. „Das war eine tolle Erfahrung, auch weil ich damals erst im zweiten Jahr in der Kompanie war. Wir waren so jung“, sagt die heute 25-Jährige und bedauert, dass Pablo von Sternenfels, ihr Partner von damals, nicht mehr beim Stuttgarter Ballett tanzt. Auch ohne ihren Landsmann an der Seite trennt sie nur noch wenig von den großen Stuttgarter Traumrollen, die Cranko mit seiner Julia, Tatjana und Katharina schuf. „Die Art, wie John Cranko seinen Balletten und Charakteren eine zutiefst menschliche Seite gibt, fasziniert mich“, sagt die Tänzerin. Natürlich gehe es auch um Schritte, „und die sind manchmal ziemlich schwer. Aber wichtig ist, dass man die Bühne mit Gefühlen füllt, und nicht, ob ein Schritt technisch richtig oder falsch war.“

Stuttgart als neues Zuhause

In der Cranko-Schule hat Rocio Aleman gelernt, dass Konkurrenz vor allem eine mit sich selbst ist. „Ich will besser sein als beim letzten Mal“, benannte sie bereits als Schülerin ihre Motivation. Das Stuttgarter Ballett formte sie in kürzester Zeit zum Profi, der weiß, wie man alleine arbeitet, wie man an einem Thema dranbleibt, um morgen besser als heute zu sein, wie man von anderen lernt. „Jeder in der Kompanie ist einmalig, jeder Kollege ist eine Inspiration“, sagt sie. „Alles geht hier schnell und gleichzeitig, so dass man ständig aufmerksam sein muss“, beschreibt sie die Arbeit in einer großen Kompanie mit breitem Repertoire. „Ich nehme es als Herausforderung“, freut sich die Tänzerin über die Zusammenarbeit mit Choreografen, die ihr bei der persönlichen Weiterentwicklung hilft. Glücklich ist sie darüber, dass sie es in Stuttgart auch mit einer Frau zu tun hat: Mit Katarzyna Kozielska verbindet Rocio Aleman zudem ihr Uraufführungsdebüt. „Das war ein kleiner Schock“, erinnert sie sich an den Moment, als sie die Choreografin für ihr Stück „Child of Tree“, eine Hommage an den Komponisten John Cage, ausgewählt hatte.

Mit 13 Jahren hätte Rocio Aleman das erste Stipendium antreten können. Aber erst als sie 15 Jahre alt war, ließen sie die Eltern ziehen. Trotzdem sei der Start in Stuttgart hart gewesen, erinnert sich Rocio Aleman. Zum Glück hat sie schnell Freunde gefunden, heute ist das Stuttgarter Ballett ihr Zuhause. „Es fühlt sich für mich wie eine große Familie an. Natürlich gibt es auch mal Spannungen, nicht jeder ist immer gut drauf“, relativiert sie. „Aber wir sprechen offen miteinander, unterstützen uns. Wenn das nicht so wäre, wäre diese Kompanie nicht so gut, wie sie ist. Wir treten gemeinsam auf, wir brauchen die Harmonie auf der Bühne.“

Gespür für die kulturelle Vielfalt Mexikos

New York, Hamburg, Montreal: Nach dem erfolgreichen Abschneiden beim Youth American Grand Prix hatte Rocio Aleman viele Angebot. Durch die Mexikanerin Elisa Carrillo Cabrera, die jetzt in Berlin tanzt, hatte sie vom Stuttgarter Ballett und der Aufgeschlossenheit der Kompanie gegenüber Neuem gehört. Die erste Aufführung, die sie dann mit eigenen Augen erlebte, war Crankos „Onegin“. „Sue Jin Kang und Jason Reilly haben das so aufwühlend getanzt, dass ich fast nicht glauben konnte, was ich da gesehen habe. Es war ein Klick: Ich spürte sofort, dass diese Kompanie etwas Besonderes hat.“

Eine Rückkehr in ihre Heimat ist für die Tänzerin momentan keine Option. Es gäbe zwar zwei große Kompanien, eine in Mexico City, eine in Monterrey, aber ihnen fehle es an Unterstützung. Vor allem aber stört Rocio Aleman in ihrer mexikanischen Heimat dies: „Die Künste sind abgetrennt von der Gesellschaft und ihren Problemen.“ Dabei könnte gerade eine Kunst wie der Tanz dazu betragen, mexikanische Vielfalt zu zeigen und Positives zu bewirken. „Eines Tages würde ich gerne dazu beitragen und mich dafür einsetzen“, sagt Rocio Aleman.