Sie waren noch nie in der Jury eines Filmfestivals, aber der Stress macht ihnen Spaß: Sechs Leserinnen und Leser der Stuttgarter Zeitung sichten aufmerksam den Wettbewerb des SWR-Doku-Festivals. Sie haben 4000 Euro als Preis der StZ zu vergeben.

Stuttgart - Wenn die Klasse sich manierlich benehme, konnten Pädagogen früher die unlustig über ihren Tischen hängenden Pennäler locken, schaue man bald mal einen Film. Wurde das Versprechen dann eingelöst, folgte auf einen heldenhaften Kampf des Lehrers mit der Filmspule ein informationsreiches Werk über die vielfältigen Nutzanwendungen des Erlenmeyerkolbens, die Balzrituale des nepalesischen Brotbeutelbohrers oder die Sedimente der letzten Eiszeit im Gschwirladinger Latschenbruch. Die nach Bewegtbild Dürstenden einer fernseharmen Ära waren von solcher Belehrung meist ein wenig enttäuscht, als habe sich ein versprochener Nachtisch als Schüssel Lebertran erwiesen. Seltsamerweise hat sich in gar nicht wenig Köpfen, sogar in solchen, die vergleichbare Schulstunden gar nicht mehr mitgemacht haben, der Eindruck erhalten, Dokumentarfilm sei eine blutarme Einpaukapparatur.

 

Derart Verwirrten möchten die sechs Mitglieder der StZ-Leserjury beim dreitätigen SWR-Doku-Festival im Metropol in der Halbzeit ihres Ehrenamts gern die Köpfe zurechtrücken. Einhelliges Erstaunen herrscht darüber, wie oft der moderne Dokumentarfilm mit dem Spielfilm gleichzieht. Jurorin Sylvia Friedt erkennt Ähnlichkeiten in Schnittfolgen, Kamera, Musik sogar der grundsätzlichen Dramaturgie. Was sie insgesamt spannend findet, löst hie und da doch auch einen leisen Zweifel in ihr aus: „Ist das alles authentisch oder auf Wirkung hingebogen?“

Kein bisschen müde

Lothar Schmidt weiß um das Problem, hat aber die rasant gewachsenen Möglichkeiten digitaler Filmtechnik zum perfekten Bild aus der Hüfte im Auge: „Da kann“, gibt er zu bedenken, „durchaus mal der Zufall zu Hilfe gekommen sein, der Zufall muss dann eben gut genutzt werden.“

Ob die zwölf Filme im Wettbewerb nun auf Kuba spielen oder im schwäbischen Dörflein Genkingen, in Mali oder Mecklenburg-Vorpommern, sie ziehen intensiv in ihre Welten. „Die größte Überraschung für mich ist“, sagt daher Peter Schlegel, „dass ich auch nach vier Filmen am ersten Tag und nachdem es heute gleich weiterging, gar nicht müde bin.“ Das Aufputschende des eigentlich Anstrengenden spürt auch Anke Hoffmann-Sekat: „Das Schauen von so vielen Filmen in so kurzer Zeit ist schon eine ziemliche Extremerfahrung. Aber es fordert einen heraus zum schnellen, konzentrierten Nachdenken.“

Der veränderte Blick

Thomas Würth hat noch eine andere Erfahrung bei seinem ersten Festivaljurorenamt gemacht: „Wenn man nach ein paar Stunden im Kino und so verschiedenen Filmwelten kurz mal für eine Pause hinaus vor die Tür geht und die Bolzstraße sieht, kommt einem Stuttgart kurz mal fremd vor. Und seltsam friedlich im Vergleich zu vielen der Filmwelten.“

Auf die Frage, ob sich denn schon klare Favoriten und einhellige Enttäuschungen herausgebildet hätten, gibt es eine halbe klare Antwort: Enttäuschungen enthält die Endrunde um den Deutschen Dokumentarfilmpreis und den Preis der StZ-Leserjury bislang gar keine. Mit den Favoriten ist es schwieriger. Die Jurorin Agnes Psykala bekennt: „Nach einem Tag glaubte ich, ich hätte einen ziemlich klaren Favoriten gefunden. Aber nun kommen neue Filme und bringen alles wieder in Fluss. Die Wertungen verschieben sich.“ Verkündet werden aber muss ein Sieger: an diesem Freitag, 30. Juni, ab 19.30 Uhr im Metropol.