Im Jahr 1871 haben strenggläubige Christen aus Württemberg Sarona gegründet. Heute ist die ehemalige Siedlung ein Hotspot von Tel Aviv.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Tel Aviv - Früher hatte der Gärtner Johannes Lämmle das Sagen in dem schnuckligen Steinhaus mitten in Tel Aviv. Er stammte aus Württemberg und war verantwortlich für die Grünanlagen in der 1871 gegründeten Siedlung Sarona nur wenige Kilometer vom uralten Küstenstädtchen Jaffa entfernt. Sein Haus sieht immer noch so aus, als wäre es aus dem Schwabenland nach Nahost gebeamt worden.

 

Deutsche leben keine mehr in der ehemaligen Templersiedlung in Zentralisrael. Und der Beruf des Gärtners ist hier auch nicht mehr angesagt, denn Sarona entwickelt sich zum neuen Hotspot in Tel Aviv mit schicken Boutiquen und Galerien, edlen Restaurants und Bars. Ein Ort, an dem sich die Reichen und Schönen treffen, wo sich israelische Hochzeitspaare vor alten Fassaden fotografieren lassen. Ein Ausflugs- und Ausgehziel für Singles, junge Familien mit Kindern und Senioren.

In dem kürzlich renovierten ehemaligen Gärtnerhaus führt jetzt Ofir Vidavsky das Regiment. Im Erdgeschoss und im ersten Stockwerk laden eine Bar und das Restaurant Branja ein auf einen Cocktail oder ein Gourmetmenü. Im Obergeschoss öffnet demnächst ein Privatclub.

Das Haus mit der ungewöhnlichen Geschichte

Der Ausflügler will nur einen Moment vor dem Haus stehen bleiben, schauen und staunen. Ofir Vidavsky ruft ihm vom Balkon aus zu: „Angucken kostet zehn Schekel, anfassen zwanzig.“ Dann kommt der braun gebrannte Mann herunter, erklärt, er sei der Chefkoch und Partner des Betreibers. Der 37-Jährige erzählt, dass seine Oma in Berlin geboren sei und seine Frau aus Solingen komme – auch deshalb habe er sich  für die Immobilie mit der  deutschen Vergangenheit interessiert. Dann lädt er den Deutschen ein zu einer Führung durch das Haus mit der ungewöhnlichen Geschichte.

Vieles sieht wieder aus wie anno dazumal, als die Templer aus Württemberg ihre typischen zweigeschossigen Steinhäuser gebaut haben. Die Holzdielen auf den Böden. Die kunstvoll bemalten Wände. Die Fensterläden, wie man sie einst in Süddeutschland angefertigt hat.

In Sarona stehen noch drei Dutzend der alten Templerhäuser. Das deutsche Dorf, das einst auf dem freien Feld an der Verbindungsstraße zwischen Jaffa und Nablus errichtet worden ist, liegt heute mitten in der  boomenden Wirtschaftsmetropole Tel Aviv, die russische Juden 1909 in den Dünen hinter der Küste gegründet haben.

Ein teures Pflaster

Wären die einstigen Pläne der Stadtverwaltung umgesetzt worden, die alten Steinhäuser stünden längst nicht mehr. Der Grund und Boden in Tel Aviv ist mindestens so teuer wie in anderen westlichen Weltstädten. Ein Abbruch der Häuser in Sarona wäre für die Stadt zu einem sehr guten Geschäft geworden. Doch die Kritiker der Abrisspläne haben sich durchgesetzt – zum Glück, sagen heute die meisten Tel-Aviver. Rund um die alte europäische Siedlung ragen Wolkenkratzer in den Himmel. Neben diesen verglasten modernen Mammutgebäuden sehen die Häuschen der Templer aus wie Kinderspielzeug.

Die Templer waren eine von vielen christlichen Glaubensgemeinschaften, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Heilige Land kamen, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Ihr Führer war Christoph Hoffmann aus Leonberg (1815 bis 1885). Die ersten württembergischen Templer siedelten von 1867 an bei Haifa, wenig später in Jerusalem und schließlich auch in der Nähe der alten Hafenstadt Jaffa. Sie bauten sich aber keine Kirchen, sondern Gemeinschaftshäuser, denn sie glaubten, dass jeder einzelne Mensch ein Tempel sei, in dem Gottes Geist wohnt. Deshalb auch der Name Templer.

Auch andere christliche Gruppen aus den verschiedensten Ländern waren vor rund 150 Jahren überzeugt davon, in der Nähe von Jerusalem wohnen und arbeiten zu müssen, damit der Messias ein zweites Mal auf Erden erscheine. Doch im Gegensatz zu den Templern kamen die meisten dieser Neueinwanderer nicht mit den harten klimatischen Bedingungen zurecht, mit der Hitze im Sommer, dem Wassermangel. Die Templer hingegen verzeichneten schon bald wirtschaftliche Erfolge: Sie exportierten unter dem noch heute populären Label „Jaffa“ Orangen nach Europa. Sie produzierten in der damals modernsten Mühle im Nahen Osten Olivenöl. Sie kelterten in einem riesigen Gewölbekeller Wein.

Die zweite Gay City nach San Francisco

Heute ziehen die Grünflächen und Spielplätze im neuen Sarona viele Familien an. In der einstigen Siedlung der Einwanderer aus Mitteleuropa treffen sich Israelis während ihrer Freizeit. Zum Beispiel Yoel Nitsch und seine Freunde. Er wohnt in Modi’in, einer Trabantenstadt, die aus der Landschaft gestanzt worden ist. Nitsch und viele andere Sarona-Besucher sagen Sätze wie „Jerusalem ist leider verloren“ – weil fast nur noch Religiöse und Araber da hinziehen würden. Oder: „Tel Aviv ist die einzige richtige israelische Stadt.“

Die Stadt muss sich nicht verstecken, nicht vor Berlin, nicht vor London, nicht vor Barcelona. Seit ein paar Jahren ist Tel Aviv auch ein Treffpunkt für homosexuelle Urlauber aus aller Welt, die zweite Gay City nach San Francisco. Tel Aviv schläft nie. Die Nächte werden am Strand oder in einer der ungezählten Bars durchgefeiert.

In Sarona indes gehen die Uhren langsamer. Während sich nebenan auf der Kaplan-Straße die Autofahrer zu fast jeder Tageszeit in Richtung Stadtmitte quälen, kann man in dem alten Templerdorf abschalten und durchschnaufen. Hier spielen ein paar Kinder Fangen, dort plauschen ältere Frauen. In einer Paulanerstube treffen sich Männer auf ein Bierchen. Deutschland, deutsche Firmen, deutsche Produkte sind populär in Israel, das wäre in den Jahren nach der Staatsgründung 1948 noch unvorstellbar gewesen. Touristen aus aller Welt stürmen die Geschäfte, wo viele Topmarken mit eigenen Länden vertreten sind: Adidas und Apple, Tommy Hilfiger, Liebeskind Berlin, Brooks, Diesel, Stüssy.

Führungen in die Vergangenheit

Täglich werden Besuchergruppen durch die grüne Insel in der Großstadt geführt. Es gibt auch Touren auf Deutsch. Paule Rakower lebt in Tel Aviv, sie hat sich jahrelang mit Gleichgesinnten beharrlich für die Erhaltung Saronas eingesetzt. Seit die Häuschen renoviert und nun wiederbelebt wurden, führt die Rentnerin Touristen durch das alte Templerdorf und berichtet von dessen wechselhafter Geschichte.

Sie erzählt von den Leistungen der Templer, sagt, dass die Christen aus Deutschland zum Vorbild für die ersten Zionisten geworden seien – für jene Juden also, die seit Anfang der 1880er Jahre in das Land kamen, um später den Staat Israel zu gründen. Die Templer hätten bewiesen, dass es möglich ist, die karge Landschaft zu bestellen, Krankheiten wie Malaria zu überstehen. Über zwei Generationen hinweg hätten sich die Deutschen aus dem Großraum Stuttgart und die jüdischen Einwanderer ganz passabel arrangiert. Doch als im Deutschen Reich die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, stiegen die Spannungen erheblich. „Viele der damals jungen Templer waren Nazis“, sagt Paule Rakower.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Templer dann auch zu Feinden für die Briten, die seit 1917 Palästina beherrschten. Die Engländer haben fast alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft zunächst in deren eigenen Häusern interniert und wenig später nach Australien deportiert. Anfang der 1940er Jahre wurde das Kapitel Sarona beendet, ein für alle Mal. Das jedenfalls dachten und hofften wohl die meisten Israelis nach dem Holocaust und seit der Staatsgründung. Der erste Ministerpräsident Israels, David Ben-Gurion, erklärte: „Sarona ist tot.“ Fortan heiße die Siedlung, in der rund 400 Deutsche gewohnt hatten, HaKirya – frei übersetzt: der Regierungscampus.

Die erste Zentrale des Auslandsgeheimdiensts Mossad

In den geräumigen Weinkellern der Templer habe die israelische Armee die ersten Kampfflugzeuge für den Unabhängigkeitskrieg gebaut, ohne dass die Briten das mitbekommen hätten, erzählt Paule Rakower während des zweistündigen Rundgangs und grinst verschmitzt. Später hätten dann die Regierung und die israelische Armee alle Templerhäuser bezogen. Nach und nach verfielen die Gebäude, die zuletzt größtenteils leer standen.

Dass das einst deutsche Sarona zu einer Keimzelle des neuen jüdischen Staats werden würde, hätten die Templer, die ein paar Jahre zuvor mit den Nazis paktiert hatten, sicher nicht erwartet. Der Staat Israel habe die Templer nach 1948 für den Verlust ihrer Häuser entschädigt, berichtet Paule Rakower. Die Nazis unter ihnen seien allerdings leer ausgegangen.

Jedes Templerhaus in Sarona hat seine Geschichte. In einem der Gebäude entstand die erste Zentrale des Auslandsgeheimdiensts Mossad. Die Antenne, die nachts ausgefahren wurde, erinnert an diese Episode der jüngeren Historie. Von hier aus gelang es dem Mossad 1956, die geheime Rede des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow abzufangen, in der dieser die Abkehr vom Stalinismus ankündigte.

Und gleich neben der alten Zentrale des Geheimdiensts befindet sich das ehemalige Weingut der württembergischen Templer mit einer riesigen Halle und den Kellerkatakomben darunter. In einem Teil dieses Gewölbes hat sich heute die israelische Weinbar Jajo eingemietet. Auf einer Außenwand steht in übergroßen Lettern auf Deutsch, Englisch und Arabisch: „Deutsche Weinbaugenossenschaft Sarona“.