Sie liegen sich wegen Stuttgart 21 in den Haaren – in einem offenen Brief wirft die Theaterlegende Claus Peymann dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann indirekt Naivität, Einfalt und Zynismus vor.

Stuttgart - Wenn Könige in früheren, sagen wir: Shakespeares Zeiten miteinander im Streit lagen, ist daraus eine Tragödie geworden. Was aus dem Streit wird, den der Theatermann Claus Peymann mit dem baden-württembergischen Landesvater Winfried Kretschmann angezettelt hat, muss sich noch weisen. Bis jetzt aber neigt der auf offener Bühne geführte, jetzt mit aller Verve in die nächste Runde gegangene Schlagabtausch zweier Publikumslieblinge – der eine in der Kunst, der andere in der Politik – nicht zum großen Drama, sondern eher zum kleinen Dramolett. Und bei genauer Betrachtung auch nur zur Komödie, zum Lustspiel zweier alter Herren, die sich wegen eines Themas klopfen, das unbestreitbar wichtig ist. Es geht um das Milliardenprojekt Stuttgart 21 – und mittlerweile auch, ganz nebenbei, um den toten Manfred Rommel.

 

In seinem offenen Brief wirft der achtzigjährige Peymann dem neunundsechzigjährigen Kretschmann nun indirekt Naivität, Einfalt und Zynismus vor. Der Theatermann kontert damit ein Schreiben des Ministerpräsidenten, worin Kretschmann dem ehemaligen Stuttgarter Theaterchef unter Hinweis auf die Volksbefragung zu S 21 nahegelegt hatte, seine Kritik am Projekt „direkt an das Volk von Baden-Württemberg zu richten“. Beim Plebiszit 2011 hatte die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Ausstieg aus dem Projekt gestimmt.

Auslöser des Gezerfes ist ein Interview, das Peymann vor zwei Wochen unserer Zeitung gegeben hat. Darin griff er neben Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn auch Winfried Kretschmann an: „Die Bahnhofsbaustelle im Herzen der Stadt: dass die grüne Administration nicht in der Lage ist, den Bürgern diese noch Jahre dauernde Zumutung zu ersparen, ist eine Schande“, sagte der in Stuttgart in den Siebzigern zur Theaterlegende gewordene Peymann, dessen Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ jüngst am Staatstheater Premiere hatte. Das Theater – eine der Pointen dieser Komödie – wird zur Hälfte von Stadt und Land finanziert.

Ob Kretschmann gut beraten war, auf die wenig differenzierte Einlassung von Peymann überhaupt zu reagieren, ist freilich mehr als fraglich. Er kann dabei nur verlieren, denn während er als Politiker jedes Wort diplomatisch wägen muss, darf Peymann als Künstler – siehe oben – drauflospoltern. Mehr noch: Das Publikum erwartet das polemisierende Poltern von diesem Theatermann, der in der Bezeichnung „Großmaul“ keine Beleidigung, sondern eine Ehre sieht – und skandalgestählt, wie er ist, setzt er mit seinem neuen Schreiben den Streit fort, indem er Kretschmanns kaltblütige Zurechtweisung, er dürfe seine Kritik nicht an die „grüne Administration“ in Stadt und Land richten, seinerseits nun heißblütig geraderückt.

Freudig erregt eröffnet der sich als „Theaterkönig“ empfindende Peymann, der über fast fünf Jahrzehnte hinweg die wichtigsten Bühnen zwischen Wien und Berlin geleitet hat, seinen Antwortbrief. Man sieht ihn förmlich feixend grinsen: „Ein kleiner Schlagabtausch mit Ihnen, warum nicht?“ lauten die ersten, sehr animierten Zeilen an den König, pardon, Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, bevor es dann die heiter angekündigten Hiebe setzt: „Sie fordern mich doch allen Ernstes dazu auf (ist das nun Ihr Humor oder schon Zynismus?), mich mit meiner Kritik direkt an das Volk von Baden-Württemberg zu wenden – gewissermaßen, um es für seine Entscheidung beim Volksbegehren zur Rechenschaft zu ziehen. Oder blitzt da doch genau jene Naivität und Einfalt auf, für die Sie berühmt sind und von der ich immer vermutet hatte, sie komme aus dem Wunsch, die Menschen direkt zu erreichen?“

„Rommel hätte meine Kritik verstanden“

In diesem Punkt, so der schlaue Theaterkönig weiter, erinnere ihn Kretschmann an den verstorbenen Manfred Rommel, den ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeister: Auch Rommel, schreibt er, schien oft naiv und einfältig zu sein. Dahinter habe sich aber ein hochintelligenter, hochmoralischer Mensch verborgen. „Rommel hätte meine Kritik an den Zuständen verstanden. Seine Einfalt war Tarnung. Und bei Ihnen, lieber Herr Ministerpräsident, was steckt hinter Ihrer Einfalt? Einfalt?“ – Nun, mit dieser rhetorischen Frage macht sich der furchtlose Peymann fast der Majestätsbeleidigung schuldig, handelt es sich bei Kretschmann doch keineswegs um einen durch Einfalt an die Macht gekommenen Politiker. Einfalt indes kann man auch dem fintenreichen Peymann selbst nicht vorwerfen, wenn er – apropos Rommel – zum nächsten Schlag ausholt. Bei der Totenfeier 2013 hätte er gerne „einige Worte des Dankes für Rommels Courage“ ausgesprochen, was aber das „Protokoll der Landesregierung verboten“ habe. Dass er damals von der Rednerliste gestrichen wurde, grämt ihn offensichtlich noch immer, schließlich hielt der in der Tat couragierte Oberbürgermeister selbst dann zu seinem Theaterintendanten, als dieser in der Hoch-Zeit des RAF-Terrors zu einer Zahnspende für die in Stammheim einsitzende Gudrun Ensslin aufrief. Der Schmerz über die Ausladung scheint so tief in seiner Seele zu wurzeln, dass er sich nun dafür rächt: Indem er den Toten aufwertet, wertet er den Lebenden ab – ein Trick, der ihm bei Kretschmann noch vor kurzer Zeit nicht in den Sinn gekommen wäre. In einem früheren Gespräch mit unserer Zeitung lobte er den Ministerpräsidenten als eine „Symbolfigur für das rebellische, konsequente und gescheite schwäbische Gemüt“, in dessen Tradition er sich – obwohl Norddeutscher – auch sehe.

Heftige Kritik an der Bahnhofs-Baustelle

Zurück zum kleinen Schmähbrief und zur Gegenwart, die der beleidigte Künstler nicht unzutreffend beschreibt. Seine Kritik gelte nicht nur „Stuttgart 21 als ein Akt technischer Hybris, sondern auch der Haltung der Politik während des Umbaus. Ein verwirrendes, nur von Technik diktiertes Wegesystem führt die Menschen bei Tag und bei Nacht durch Matsch und Schlamm – oft in die Irre. Die Älteren trauen sich gar nicht mehr in die Nähe der Baustelle, die Jüngeren verlaufen sich im Schlossgarten“ – und damit legt der in Berlin lebende Peymann tatsächlich den Finger in die offene Wunde der Stadt. Wenn der vom Hügel des Staatsministeriums in die Baugrube blickende Ministerpräsident bei dieser Widerrede des Störenfrieds abermals leise aufjaulen sollte, ist die jetzt aufgeführte Komödie wenigstens nicht ganz umsonst gewesen: Es gibt Dinge, über die man reden sollte.