Der 24. Juni 2022 ist ein Freitag. Um 8.35 Uhr Ortszeit setzt sich im Bundesstaat New York eine Frau in den Zug nach Manhattan. In einem Supermarkt hat sie am Tag zuvor eilig ein, wie sie findet, nicht sehr gelungenes Passbild von sich gemacht. Sie hat es dennoch zu den anderen Unterlagen gesteckt und ist ziemlich aufgeregt. Die Fahrt bis Grand Central Station dauert eine Stunde und neun Minuten. Ankunft 9.44 Uhr. Eleanor Reissa hat die Uhrzeiten in ihrem Tagebuch notiert. Sie geht die letzte halbe Meile über die Lexington Avenue und die 48. Straße zu Fuß. Ihr Ziel ist das deutsche Generalkonsulat. Sie kann nicht recht glauben, dass das, was gleich passieren wird, „wirklich wahr ist“.
Der Spaziergang ist eine sehr wichtige Etappe einer sehr langen Reise. „A daughter’s journey“, die Reise einer Tochter, wie sie sagt. Was an diesem Freitag geschieht, ist auch die 80 Jahre ausstehende offizielle deutsche Wiedergutmachung von Unrecht, das Familien wie der von Eleanor Reissa widerfahren ist.
Fast genau ein Jahr vor ihrem Termin im Konsulat haben Bundestag und Bundesrat eine längst überfällige Gesetzesänderung verabschiedet. Das Staatsangehörigkeitsgesetz ermöglicht es seit 20. August 2021 auch den Nachfahren von Nichtdeutschen, die hier wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt wurden, sich einbürgern zu lassen. Bis zum Juni dieses Jahres sind 7240 Anträge beim Bundesverwaltungsamt Köln eingegangen. Der von Eleanor Reissa gehört zu den frühen.
„Herzliche Glückwünsche. Jetzt sind Sie Deutsche!“
Fast scheitert sie noch an der sehr deutschen Vorliebe für Bargeld. Fünf Dollar braucht Eleanor Reissa, um im Generalkonsulat ein besseres Bild für ihren Pass machen zu lassen. Sie hat nur eine Kreditkarte dabei. Eine Frau, die ebenfalls auf ihren Termin wartet, leiht ihr das Geld. Glückliche Zufälle und Fügungen gehören zur Grunderfahrung ihrer Reise. Wenig später überreicht eine Konsulatsmitarbeiterin Eleanor Reissa die Einbürgerungsurkunde, beglückwünscht sie auf Englisch durch die Corona-Trennscheibe: „Herzliche Glückwunsch! Jetzt sind Sie Deutsche.“ Eleanor Reissa sucht nach den passenden Worten. „Es ist doch bemerkenswert, dass ich jetzt Bürgerin des Landes bin, das immer die gefühlte Heimat meines Vaters war.“ Nie hat sie sich das vorstellen können. Nicht einmal den Wunsch danach. Nein. No. Never. Aber wie das auf Reisen eben so ist: Sie führen manchmal auf unerwartetes Terrain.
Begonnen hat diese Reise vor mehr als 100 Jahren in Stuttgart. Lange also vor Eleanor Reissas Geburt in Brooklyn im Jahr 1953. Der jüdische Kaufmann Chaskel Schlüsselberg, geboren 1901 im polnischen Galizien, lebt seit 1918 mit seiner Familie in Deutschland und ist im Stuttgarter Westen heimisch geworden.
Doch die Nazis werden ihm sein Leben in Stuttgart rauben. Sie deportieren seine sechsjährige Tochter Frida mit ihrer Mutter Chana und ermorden sie. Ihren Sohn Heinrich haben die Schlüsselbergs 1938 nach der November-Pogromnacht noch rechtzeitig in einen Kindertransport nach England setzen und retten können. Er bleibt für immer dort.
Chaskel Schlüsselberg entgeht der Deportation im Jahr 1942, weil sein Chef sehr mutig ist und sagt, sein Angestellter sei unabkömmlich. Der Familienvater musste jedoch mitansehen, wie seine Frau und Tochter von ihm getrennt werden. Ein Jahr später wird auch er nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er schuftet dort im Lagerkomplex Buna Monowitz für die IG-Farben und ist einer der wenigen überlebenden Stuttgarter Juden.
Fünf Jahre, bis 1950, lebt er wieder in seiner Heimatstadt. Die Wohnung, die ihm zusteht, überlässt er jedoch seinem ehemaligen Chef aus Dankbarkeit dafür, dass er ihn zunächst vor der Deportation bewahrt hat. In der Donau-Bastion, dem Ulmer Displaced-Persons-Camp, lernt Chaskel seine spätere zweite Frau Ruth kennen. Sie hat mit ihrer Familie in Usbekistan überlebt. Ende 1949 wandert erst sie nach Amerika aus. Wenige Monate später auch er. In New York beginnt Chaskel sein neues Leben und heißt fortan offiziell Charles.
Briefe als Wegweiser in die Vergangenheit
In der Zeit der Trennung schreiben Chaskel und Ruth einander Briefe. Er verwendet dafür sein Briefpapier mit dem Briefkopf „Ch. Schlüsselberg. Import von Südfrüchten, Obst, Gemüse, Eier und Geflügel. Stuttgart-West. Elisabethenstr. 3“. Für Eleanor werden diese 56 Briefe später zu Wegweisern in die Vergangenheit. Da hat sie bereits ein umtriebiges Leben – als Broadway-Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin und Autorin.
Sie ist das einzige Kind ihrer Eltern. Jiddisch ist ihre erste Sprache. Sie hat die gleichen Locken wie ihre Halbschwester Frida, die sie nie kennengelernt hat. Was sie immer ahnt, wird ihr auf ihrer langen Reise durch die Familiengeschichte bewusst. Für ihren Vater war sie der Augenstern, eine zweite Frida, die er beschützen will. Das liest seine Tochter lange nach seinem Tod in seiner Wiedergutmachungsakte. Die Ehe von Ruth und Chaskel Schlüsselberg jedoch hält nicht. Zwei mit großem emotionalem Gepäck finden vielleicht auf Dauer nicht zusammen. Beide reden wie fast alle Überlebenden nicht über ihre Vergangenheit. Gefühlt schwebt sie aber über allem. Chaskel Schlüsselberg stirbt 1976 an den Folgen eines Schlaganfalls. Ruth 1986.
In ihrem Kleiderschrank findet die Tochter die Briefe und versteht kein Wort, da sie auf Deutsch verfasst sind. Sie legt sie 30 Jahre beiseite, bis sie 2017 beginnt, sie übersetzen zu lassen. Von verschiedenen Personen, die jeweils nur ein paar Briefe zu lesen bekommen. Niemand soll mehr wissen als sie selbst. Sie hat das Misstrauen und die Vorsicht ihrer Eltern offenbar geerbt. Um mehr herauszufinden, reist sie schließlich nach Deutschland an die Orte, an den ihre Eltern gelebt haben. Im Januar 2018 kommt sie nach Stuttgart.
Im Staatsarchiv Ludwigsburg findet sie die Wiedergutmachungsakte ihres Vater. Sie dokumentiert einen demütigenden Kampf um ein bisschen Gerechtigkeit. Als er um einen Zuschuss für neue Zähne bittet und darauf verweist, in Auschwitz habe ihm ein SS-Mann mit einem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen, gräbt die zuständige Instanz in alten Krankenkassenakten. Sie finden einen Beleg, dass der Überlebende schon vorher eine Krone bekommen habe – und lehnt ab.
Ihr Buch ist Liebeserklärung und Mahnung zugleich
Aber Eleanor Reissa begegnet auch Menschen, die sie auf ihrer emotionalen Reise begleiten. Fremde werden zu Weggefährten auf diesem Ausflug in die Vergangenheit. Auch die Verfasserin dieser Zeilen. Gemeinsam stehen wir an der Gedenkstätte Nordbahnhof, dem Gleis, von dem aus die Stuttgarter Juden deportiert wurden. Eleanor Reissa findet dort auch die Namen von Chana und Frida. Aus der sehr emotionalen Reise wird ein Buch: „The letters project. A daughter’s journey“. Geschrieben als Selbsterkundung, Erinnerung, Liebeserklärung an die Eltern und als Mahnung in einer Zeit, in der durch die Präsidentschaft Donald Trumps ihr Land weiter gespalten und die Stimmung dort aggressiver wird.
Auf dem Weg ins Generalkonsulat hört sie ihren Vater sagen: „Ich habe den Holocaust nicht überlebt, damit du wieder in einem Land lebst, in dem du in Gefahr bist. Niemand weiß, was geschieht.“ In dieser „irrealen, surrealen Situation“ fühlt sie sich ihm sehr nah – und ermächtigt, die Verbindung zwischen New York und Stuttgart wiederherzustellen.
Was, wenn sie ihr Land überstürzt verlassen müsste? Der Gedanke beschäftigt sie seit Langem. Wäre Deutschland, die gefühlte Heimat ihres Vater, dann ihr Ziel? Sie denkt das immer öfter. Doch lange ist es unmöglich für sie, einen deutschen Pass zu bekommen. Dann kommt im Sommer 2021 die Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Anruf beim Tübinger Anwalt Manfred Weidmann: „Gilt das neue Recht für Eleanor Reissa?“
Weidmann ist einer der kenntnisreichsten Asylanwälte und Sprecher des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. Sein gesamtes Anwaltsleben vertritt er Geflüchtete rechtlich. Es ist für ihn keine Frage, dass seine Kanzlei den Fall übernimmt. „Wenn man Unrecht wiedergutmachen kann, muss man es tun“, sagt er.
Im September 2021 geht Reissas Einbürgerungsantrag von Tübingen an das Bundesverwaltungsamt Köln. Im April 2022 kommt die Nachricht vom New Yorker Generalkonsulat: genehmigt. Ein Mann vom Sicherheitsdienst macht das Foto, auf dem Eleanor Reissa mit ihrer Einbürgerungsurkunde im Generalkonsulat zu sehen ist. Sie steht unter dem Bundesadler, dem Hoheitszeichen des Landes, dessen Vorgänger ihren Vater in die Gaskammer schicken wollte. „Es ist noch immer wie ein Wunder“, sagt sie in ihren emotionalen Momenten. Manfred Weidmann findet dafür andere, ein bisschen wütendere Worte: „Viel zu spät, aber wenigstens noch nicht zu spät.“
Die geliehenen fünf Dollar für das Passbild hat Eleanor Reissa noch am gleichen Tag zurücküberwiesen.
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