Hunderttausende reisen in den Sommermonaten nach Heidelberg und überschwemmen die engen Gassen. Ein Tag mit einer Reisegruppe aus Übersee.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Heildelberg - Wer erahnen will, wie die großen Dichter Heidelberg sahen, sollte frühmorgens den Philosophenweg entlangspazieren. Man blickt auf das Häusermeer, darüber thront die Schlossruine. „Lange lieb’ ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied, du, der Vaterlandstädte Ländlichschönste“, schwärmte Hölderlin.

 

Steigt man hinunter ins Flusstal und überquert die Theodor-Heuss-Brücke, trifft man auf urbane Scheußlichkeiten. Die alliierten Bomber verschonten Heidelberg im Krieg, die deutschen Planer schlugen dafür zu und ließen Kaufhof und Woolworth Betonklötze errichten. Selbst in der Hauptstraße ist die Welt nur halbwegs heil. Zwar schmücken die längste Fußgängerzone Europas barocke Fassaden; dahinter ist freilich die C&A-Fielmann-Saturn-Einzelhandelsmonotonie eingezogen.

Es sind Semesterferien, die 29 000 regulär Studierenden sind größtenteils ausgeflogen. Im Hochschulgebäude findet der „Internationale Ferienkurs für deutsche Sprache und Kultur“ statt. Aus einem geöffneten Fenster dringen die Worte eines Dozenten: „Schwätzen bedeutet dasselbe wie sprechen oder reden.“ Vor ihm sitzen junge Chinesinnen und Italienerinnen in kurzen Röcken. Hölderlin wäre hierzu bestimmt ein schwärmerisches Gedicht eingefallen.

Die eloquente Fremdenführerin

Charlotte Frey stellt ihr Fahrrad am Universitätsplatz ab und nimmt eine rosa Plastikblume aus der Tasche – ihr Gästeführerinnenerkennungszeichen. Frey ist eine öffentlichkeitsscheue Frau, Persönliches mag sie eigentlich nicht preisgeben, nur so viel: Sie wuchs im US-Bundesstaat Georgia auf, studierte an der schottischen Eliteuniversität St. Andrews, verliebte sich in New York in einen schlauen Deutschen und folgte ihm nach Heidelberg. Seit mehr als zehn Jahren führt sie englischsprachige Besuchergruppen durch die Stadt.

Punkt neun erscheint die heutige Kundschaft in knielangen Khakihosen, bunten Poloshirts und leichten Wanderschuhen: Jerome Kringel aus Milwaukee/Wisconsin mit Gattin Mary und den fünf Töchtern samt deren Ehemännern. Die staatlich anerkannte Gästeführerin Frey stellt sich als „Charlotte“ vor, der pensionierte Rechtsanwalt Kringel als „Jerry“. Frey berichtet ihren Landsleuten, dass es „sehr einfach ist, sich in Heidelberg zu Hause zu fühlen“ und dass die 148 000 Einwohner happy seien, hier zu leben. Kringel erzählt, dass er 1962/63 dank eines Auslandsstipendiums an der Ruprecht-Karls-Universität studiert habe. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, wolle er seinen nahen Angehörigen zeigen, wo seine akademische Karriere begann.

Let’s go. Um die Ecke liegt der Karzer, in den einst Studenten für Kavaliersdelikte eingesperrt wurden. Manche vertrieben sich die Zeit damit, die Wände mit Zeichnungen und Sprüchen zu verzieren. „Es ist fraglich, ob die Kriminalgeschichte dieser Welt einen kurioseren Brauch aufzuweisen hat“, schrieb Mark Twain, der 1878 drei Monate in Heidelberg verbrachte und eine Lobeshymne auf die Stadt verfasste: „Das verschlungene Spinnennetz der Straßen und Gassen strahlt wie Juwelen im glitzernden Licht. Niemals habe ich mich an einem Blick erfreuen können, der solch einen befriedigenden Charme ausstrahlte.“

Der Mythos in Übersee

Twains Reisebericht hatte in seiner Heimat eine enorme Breitenwirkung, noch stärker wurde der Heidelberger Mythos in Übersee jedoch aus einer fiktiven Geschichte gespeist: „The Student Prince“, 1924 uraufgeführt und bis heute eines der erfolgreichsten Broadway-Stücke, erzählt von einem deutschen Thronerben, der sich in eine Heidelberger Wirtstochter verknallt. „Wir Amerikaner lieben Romantik“, sagt Mary Kringel, die mit ihrem „Student Prince“ Jerry frisch verheiratet war, als sie ihm 1962 von Wisconsin für ein Jahr in die Kurpfalz folgte. Die älteste Tochter ist die Folge einer Heidelberger Liebesnacht.

Mary und Jerry Klingel sind bereits ein paar Mal an ihren Sehnsuchtsort zurückgekehrt, die – längst erwachsenen – Kinder und die Schwiegersöhne sehen hingegen alles zum ersten Mal: Die Alte Aula im Neorenaissancestil, den Kornmarkt mit der Madonnenfigur, den Marktplatz mit dem Herkulesbrunnen und dem Rathaus. Vieles wirkt wie eine Kulisse und ist doch echt. „Amazing! Incredible! Wonderful!“ rufen die Amerikaner. Und Charlotte Frey freut sich, dass sie wissbegierige Landsleute vor sich hat. Mitunter kommt es vor, dass sich die Teilnehmer ihrer Führungen mehr für Shopping und Biertrinken als für die Friedrich-Ebert-Gedenkstätte interessieren.

Vor 15 Stunden ist die Großfamilie Kringel am nahe gelegenen Frankfurter Flughafen gelandet, sechs Nächte wird sie in einem Hotel am Neckarufer verbringen. Damit hebt sie die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines Heidelbergtouristen. Zwar zählte die Stadt im vergangenen Jahr rund drei Millionen Besucher, aber nur 1,1 Millionen Übernachtungen. Woraus sich schließen lässt, dass der Fremdenverkehr in den meisten Fällen auf eine Tagesfahrt beschränkt ist. So gesehen spielt Heidelberg in einer Liga mit Helgoland und Legoland. Morgens alle rein, abends alle raus.

Kitsch geht immer

In den Sommermonaten verstopfen rheinische Keglertrupps, schwäbische Rentnergruppen und asiatische Europa-in-fünf-Tagen-Pauschalreisende die pittoresken Gassen. Neben der Heilig Geist Kirche werden an Ständen Taschen mit „City of Heidelberg“-Aufschrift, Plastikschwerter und Kuckucksuhren verkauft. Kitsch geht immer. Auch die Wirte haben sich auf die Klischeeklientel eingestellt, bieten „German Gemütlichkeit“ mit knarzenden Holzstühlen und historischen Ackergeräten als Wandschmuck sowie Speisekarten, die an Einfallslosigkeit kaum zu überbieten sind: Schnitzel, Braten, Wurst. Wo deutsch, deftig und dennoch delikat aufgetischt wird wie im „Roten Ochsen“, sind schon vor zwölf alle Tische belegt.

Zu dieser Zeit stehen die Kringels unten an der Bergbahn in einer Menschentraube. Man könnte den Höhepunkt der Führung auch in zehn Minuten per pedes erklimmen, aber die 303 Stufen hinauf zum Schloss sind strapaziös, zumal wenn man schon den ganzen Vormittag auf den Beinen ist. Dann doch lieber riskieren, dass die Gruppe auseinandergerissen wird, weil das Drehkreuz gnadenlos blockiert, sobald eine Bahn voll ist. Was prompt geschieht.

Laut der Deutschen Zentrale für Tourismus kommt das Schloss Heidelberg unter den 100 deutschen Topsehenswürdigkeiten bei ausländischen Gästen am besten an. Selbst Neuschwanstein, das Brandenburger Tor und der Kölner Dom lösen nicht so große Begeisterung aus. Insofern kann man den Franzosen dankbar sein, dass sie das alte Gemäuer 1689 zerstörten und damit eine Art kurpfälzische Akropolis erschufen. Den schönen Trümmerhaufen haben hernach fast alle großen deutschen Dichter besungen. Auch Joseph Goebbels, Hitlers PR-Berater und ehemaliger Heidelberger Student, war von dem Schutt hingerissen.

Die treuen Amerikaner

Den Namen Goebbels erwähnt Charlotte Frey nicht, als endlich ihre amerikanischen Gäste vor dem Schloss wiedervereint sind. Stattdessen referiert die Historikerin über mittelalterliche Baukunst, die Kurfürsten und deren Verbindungen zum englischen Königshaus. Den Zuhörern merkt man eine gewisse Ermattung an, die Nachfragen werden spärlicher. Munter werden die Kringels erst wieder, als Frey anbietet, Gruppenfotos in dem historischen Ambiente zu schießen. „Die Bilder werden wir uns an Weihnachten anschauen, wenn die Familie in Milwaukee zusammenkommt“, sagt Mary Kringel. Cheeeese!

Früher hieß es: Wer in Heidelberg zehn Steine in eine Menschenmenge wirft, trifft fünf Japaner. Schaut man sich die aktuelle Statistik an, befinden sich die Gäste aus Nippon auf dem Rückzug. 21 000 Übernachtungen im Jahr 2011 bedeuten innerhalb von zwölf Monaten ein Minus von 29 Prozent. Der Japaner von heute reist nach Italien, Frankreich oder Berlin, dafür sind zunehmend Chinesen, Inder und Russen in den Altstadtgassen anzutreffen.

Verkehrsstau am Neckarufer

Richtig Verlass ist aber nur auf die Amerikaner, die Heidelberg über Jahrzehnte die Treue gehalten haben. Mit fast 100 000 Übernachtungen pro Jahr werden sie nur von den Deutschen übertroffen. Was auch damit zusammenhängt, dass die USA in Heidelberg seit 1945 militärisch präsent sind. Mancher Soldat schaut gerne mal ein paar Tage dort vorbei, wo er gedient hat.

Nachmittags kehren die Kringels ins Hotel zurück. Von ihren Fenstern blicken sie auf den Neckar, den Heiligenberg – und den Verkehrsstau. Seit vielen Jahren soll die Uferstraße in einen Tunnel verbannt werden, doch es fehlen die Millionen. „Die Stadt mit ihrer Lage und ihrer ganzen Umgebung hat, man darf sagen, etwas Ideales“, schwärmte Goethe. Seinerzeit gab es weder Autobusse noch Tagestouristen.