Tage nach dem Putschversuch brodelt die Stimmung in Istanbul weiter. Der für Demonstrationen bislang gesperrte Taksim-Platz wird von Nationalisten und Frommen geflutet. Säkulare und Liberale fürchten derweil um ihre Sicherheit.

Stuttgart - Surreal fühle es sich an, sagt Cem Tüzün und lächelt ein wenig. Die organisierten Kundgebungen nach dem Putsch, die Diskussion um Todesstrafe, Gülenisten, Verräter der Nation. Während des versuchten Staatsstreichs einer kleinen Gruppe des Militärs am Freitagabend fanden mehr als 250 Menschen in wenigen Stunden den Tod. Tausende Menschen in Militär, Justiz und Verwaltung wurden seither verhaftet, rund drei Millionen Beamte aus den Ferien zurückbeordert. „Und dann ruft der Staatspräsident Erdogan sein Volk nachts um halb zwei zu seiner Privatresidenz und hält ihm eine Rede, die sich allen Ernstes darum dreht, dass er den Gezi-Park mit einer Kaserne im Osmanenstil bebauen und auf dem Taksim-Platz ein festliches Opernhaus   errichten will! Ist das nicht unglaublich?“

 

Cem Tüzün nippt an seinem Tee in einem Café im Istanbuler Szeneviertel Beyoglu. Es ist Dienstagmorgen, der linke Netzwerker, Mitglied der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, berichtet von seinen Gedanken seit dem Putsch. Er war am Freitagabend in seinem Sommerhaus am Mittelmeer. „Ich habe den Putsch von 1980 miterlebt und wurde verhaftet, ich kenne keinen Linken oder Liberalen, der einen Militärputsch gutheißt“, sagt er. Doch viele Freunde würden ihre Wohnung jetzt nicht verlassen, weil sie Angst hätten. Angst vor Islamisten, Angst vor Übergriffen durch den Mob. Der 52-Jährige hat einen großen Teil der vorangegangenen Nacht ganz in der Nähe an jenem öffentlichen Platz verbracht, der sein Leben mitbestimmte: dem Taksim, dem Herz der Megametropole.

Erdogan hat die Schlappe im Gezi-Park nie verwunden

Dieser Platz ist ein zentrales Symbol der türkischen Linken und Kemalisten, seit dort am 1. Mai 1977 Unbekannte auf Gewerkschafter schossen und ein Blutbad anrichteten. Tüzün hat hier gegen den Abriss von Häusern und für den Erhalt denkmalgeschützter Kinos gekämpft und sich als führendes Mitglied der Taksim-Solidaritätsplattform 2013 gegen die von Erdogan geplante Bebauung des Gezi-Parks mit einem Einkaufszentrum im Stil einer Osmanenkaserne eingesetzt. Es folgte ein Sommer des Aufruhrs, der das ganze Land ergriff und sich zunehmend gegen den autoritären Regierungsstil Erdogans richtete. Gezi-Park und Taksim-Platz wurden zum Symbol der ersten großen politischen Niederlage des mächtigen Politikers.

Es war eine Schlappe, die Erdogan bis heute nicht verwunden hat, wie sein Auftritt in der Nacht zum Dienstag beweist. „Jetzt versuchen die Erdogan-Leute, eine Art Gezi-Moment für sich zu schaffen. Aber das hat etwas Künstliches“, sagt Cem Tüzün. Seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste wurde der Taksim-Platz für politische Versammlungen gesperrt. Die Begründung für das Verbot von Gewerkschafts-, Schwulen- oder Kurdendemonstrationen war stets dieselbe: Sicherheitsbedenken. Auch die kleinste Kundgebung wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Jetzt haben Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim dazu aufgerufen, sich auf Straßen und Plätzen zu versammeln, um „die Republik zu verteidigen“.

Der Platz gehört nun Nationalen, Konservativen und Frommen

Seither verwandelt sich der Taksim jeden Abend in ein Meer aus roten türkischen Fahnen. Von der Fassade des entkernten Atatürk-Kulturzentrums grüßen jetzt zwei überdimensionale Erdogan-Porträts. Das ist symbolisch bedeutsam, denn diese Stelle war bisher für den säkularen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk reserviert. Abends gehört der Platz nun den Nationalen, Konservativen und Frommen aus allen Vierteln der Stadt. Es herrscht Volksfeststimmung. Rote bengalische Feuer lodern auf, Hunderte Handys leuchten für die Familien-Selfies. Bis zu 10 000 Menschen werden mit osmanischen Märschen, politischen Parolen und dem AKP-Wahlkampf-Schlager „Recep Tayyip Erdogan“ beschallt. Die Stadtteilverwaltung von Beyoglu hat eine professionelle Bühne mit zwei Großbildschirmen und Soundsystem aufgebaut, davor eine überdimensionierte Coca Cola-Werbeflasche.

Alle in Istanbul dürfen seit Samstag U-Bahnen, Busse und Bosporusfähren kostenlos benutzen. Plötzlich brausen Dutzende Motorradfahrer auf den Platz, stoppen ihre Maschinen, brüllen „Allahu Akbar!“.   Junge Männer und Frauen formen ihre Hände zum Wolfsgruß, dem Zeichen der faschistischen „Grauen Wölfe“ und rufen Parolen aus der Militärausbildung: „Alles für das Volk!“ Als dann der frühere türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am späten Montagabend spricht, fordern die Menschen in lauten Sprechchören: „Todesstrafe für die Verräter!“ Eine junge Frau, die international arbeitet, findet das richtig: „Natürlich müssen die Rädelsführer hingerichtet werden.“ Sie hoffe, sagt sie, dass nun alle „Verräter der parallelen Organisation“ gefunden und bestraft würden.

„Wir brauchen kein Mitgefühl, wir brauchen jetzt Hilfe“

„Parallele Organisation“ ist eine Umschreibung Erdogans für die Anhänger der islamischen Gülen-Bewegung, die er für den Putschversuch verantwortlich macht. Die Menschen auf dem Platz feiern ein neues großes gemeinsames Erlebnis: Es waren nicht die Parteien, es war das einfache Volk, das die Putschisten stoppte. Doch auf dem Taksim-Platz ist eher das halbe Volk. Man sieht keinen Anhänger der linken oder kurdischen Opposition. Nur Cem Tüzün ist an diesem Abend gekommen, um sich der wiedergewonnenen Demonstrationsfreiheit zu erfreuen. Er kündigte sein Erscheinen per Facebook und Twitter an und erhielt umgehend Hunderte besorgter Warnungen von Freunden. Sie fürchten, dass anstelle der Gülenisten, die keine Erkennungszeichen tragen, jetzt Säkulare, Minderheiten, alle „Anderen“ zur Zielscheibe werden. Tüzün sagt lächelnd, er habe sich gut beschützt gefühlt. 20 bis 30 Zivilpolizisten hätten ihn ständig im Auge gehabt. Der Aktivist glaubt, dass sich viele in der Türkei nur nach einem sehnten: Normalität und Stabilität.

Ob es Erdogan jetzt gelinge, Taksim-Platz und Gezi-Park symbolisch zu okkupieren, sei nebensächlich, sagt er. Viel wichtiger sei, ob das Land im Chaos versinke, oder ob es endlich eine Umkehr gebe, personell oder politisch. „Viele Freunde sind jetzt tief deprimiert und denken, sie müssten auswandern“, sagt er. „Aber ich glaube, wir Türken werden die Probleme lösen. Wir haben jetzt fünf Militärputsche überstanden! Wir brauchen nun klare Ansagen gegen eine Diktatur. Wir brauchen eine mutige Führung der Opposition.“ Ausländische Freunde würden ihn seit dem Putsch ständig zum Essen einladen, um ihr Mitgefühl auszudrücken, sagt er. „Aber wir brauchen kein Mitgefühl, wir brauchen jetzt Unterstützung.“