Erdogans geplante Verfassungsänderung ist vor allem für die jungen, gut ausgebildeten und weltoffenen Türken ein Grund, die Heimat zu verlassen. Die Abwanderung der besten Talente könnte für das Land zum Problem werden.

Istanbul - Ahnenforschung ist derzeit eine beliebte Beschäftigung in der Türkei. Nicht aus Neugier oder wissenschaftlichem Interesse, sondern aus ganz praktischen Gründen: Viele Menschen suchen unter ihren Vorfahren nach Bürgern heutiger EU-Staaten, weil sie auswandern wollen. Auch Koray Kilic hat seinen Stammbaum zurückverfolgt und ist fündig geworden. „Mein Urgroßvater lebte Ende des 19. Jahrhunderts im heutigen Rumänien“, erzählt der 35-jährige Familienvater. „Nach rumänischem Recht habe ich als Urenkel Anspruch auf die rumänische Staatsbürgerschaft, ich kann also EU-Bürger werden“, freut sich Kilic. Damit öffnet sich für ihn die Tür zur Rückkehr nach Deutschland.

 

Kilic ist als Kind türkischer Gastarbeiter in Köln geboren und aufgewachsen. Als er 13 war, ging die Familie zurück in die Türkei. Aber die Verbindungen zu Deutschland hat Kilic nie abreißen lassen. Er arbeitete in Istanbul für Firmen wie Siemens, SAP und Deichmann, heiratete vor sieben Jahren eine ebenfalls in Deutschland aufgewachsene türkische Jugendfreundin. Das Paar hat zwei Söhne, dreieinhalb Jahre und zwei Monate alt. Jetzt planen Koray Kilic und seine Frau Aysen die Rückkehr nach Deutschland. „Nichts wie weg“, sagt Kilic. „Diese Regierung mischt sich mit ihrer islamisch-konservativen Ideologie immer stärker in unser Privatleben ein“, meint der Familienvater und erklärt: „Unser Motto ist ,Leben und leben lassen‘, jedem das Seine, aber das gilt in der Türkei nicht mehr.“

Durschauen viele Erdogans Strategie tatsächlich nicht?

Beim Verfassungsreferendum am 16. April will Kilic mit Nein stimmen. Er hat sich informiert, weiß im Detail, worum es bei den 18 Änderungsartikeln geht. „Mit Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun“, sagt er über das Präsidialsystem, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine noch größere Machtfülle geben soll. „Viele wissen gar nicht, worüber sie in dem Referendum entscheiden“, hat Kilic in seinem Bekannten- und Kollegenkreis festgestellt: „Die meisten werden aus reinem Erdogan-Fanatismus mit Ja stimmen.“ Erdogan heize diese Emotionen systematisch an, indem er Deutsche, Niederländer, Österreicher und nun auch Schweizer zu Feinden der Türkei erklärt. Kilic befürchtet: „Am Tag nach der Abstimmung wird Erdogan erst richtig loslegen, egal wie das Ergebnis ausfällt.“

Das Referendum in der Türkei im Faktencheck:

Was Kilic am meisten stört, sind die Veränderungen im Bildungswesen: Die Wertvorstellungen der islamischen Regierungspartei AKP zögen sich wie ein roter Faden durch die Lehrpläne. „Ich habe Vergleichsmöglichkeiten, weil ich das deutsche Bildungssystem kenne“, sagt er: „Das türkische, wie es unter Erdogan geworden ist, tue ich meinen Kindern nicht an.“ Wenn er jetzt mit seiner Frau die Auswanderung vorbereite, „machen wir das vor allem für unsere Jungs“.

Dem Land droht ein Braindrain – der Weggang der Besten

Kilic ist nicht der Einzige, der wegwill. In den Auswanderer-Internetforen herrscht ein reger Meinungsaustausch. Koray Kilic und seine Frau haben etliche Bekannte, die – alleinstehend, als Paare oder Familien – nichts mehr in der Türkei hält. Fünf davon seien bereits umgesiedelt, nach Deutschland, Dänemark und in die Schweiz. Belastbare Statistiken zur Auswanderung gibt es nicht. Die türkische Regierung erfasst die Zahlen vermutlich, veröffentlicht sie aber aus naheliegenden Gründen nicht. Mehr als 7300 Akademiker verloren im Zuge der „Säuberungen“ nach dem Putschversuch ihre Arbeit. Viele von ihnen suchen jetzt Jobs im Ausland.

Dass es vor allem junge, gut ausgebildete und weltoffene Leute sind, die nun ans Auswandern denken, weil sie sich in Erdogans Türkei nicht mehr heimisch fühlen, könnte zu einem Problem werden: Dem Land droht ein Braindrain, die Abwanderung der besten Talente. Vor allem Türken, die schon einmal längere Zeit im Ausland waren, dort studiert haben oder aufgewachsen sind, spielen mit dem Gedanken, die Türkei zu verlassen. Einer von ihnen ist Ali Nakci. Der 37-Jährige ist in Rheinbach bei Bonn aufgewachsen, hat in Essen studiert und sechs Jahre lang als Personalberater in Köln gearbeitet, bevor er 2012 in die Türkei zurückging und in Istanbul ein Beratungsunternehmen gründete. Nakci unterstützt deutsche Firmen beim Markteintritt in der Türkei und türkische Unternehmen bei der Expansion ins Ausland. „Ich denke immer öfter daran zurückzugehen“, sagt Nakci.

Der Konfrontationskurs ist für die Wirtschaft kontraproduktiv

Seit 2013 schwächelt die türkische Wirtschaft. Und dann sind da die aktuellen politischen Probleme und die ständigen Angriffe Erdogans gegen Europa. „Dieser Konfrontationskurs nach dem Motto ,Wir Türken bieten der ganzen Welt Paroli‘ ist kontraproduktiv für die Wirtschaft“, sagt Nakci. „Kaum einer will hier mehr investieren, es gehen mehr ausländische Firmen weg, als neue hinzukommen“, beobachtet der Unternehmer. Auch ihn beschäftigt die Zukunft seiner Familie: „Im August erwarten meine Frau und ich unser erstes Kind“, sagt er: „Ich denke, danach werden wir wohl nach Deutschland gehen.“

Für die Familie Nakci steht die Tür jederzeit offen, der 37-Jährige hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Koray Kilic wartet derweil auf seinen rumänischen Pass. „Spätestens im August habe ich die Papiere“, hofft er. Bewerbungen an Firmen in Deutschland hat er bereits geschrieben. Am liebsten möchte er nach Köln, in seine alte Heimatstadt, oder nach Stuttgart, wo seine Schwiegermutter lebt. Er habe bei seiner Ahnenforschung „das große Los gezogen“, freut sich Kilic. Andere haben weniger Glück. Einer seiner Bekannten habe die Vorfahren über mehrere Generationen zurückverfolgt, erzählt Kilic. Dann sei er tatsächlich auf eine Auslandsverbindung gestoßen. Aber die Urgroßmutter war Perserin. „Da hat er natürlich eine Niete gezogen“, sagt Kilic mitleidsvoll.