„Die verlorene Tochter“ mit Henriette Confurius ist ein clever konzipiertes sechsteiliges ZDF-Krimidrama über die Rückkehr einer vor zehn Jahren spurlos verschwundenen jungen Frau.

Stuttgart - Der Titelzusatz „Event“ klingt etwas marktschreierisch und wäre überhaupt nicht nötig gewesen: „Die verlorene Tochter“ ist ein dramaturgisch ausgesprochen clever konzipiertes Epos und auch mit viereinhalb Stunden keine Minute zu lang. Der Reiz der Produktion liegt nicht zuletzt in ihrem tatsächlichen Seriencharakter: Wenn sich horizontal erzählte Geschichten über mehrere Episoden erstrecken, handelt es sich meist um Spielfilme in mehreren Teilen, selbst wenn die einzelnen Folgen möglicherweise mit einem Cliffhanger enden.

 

Christian Jeltsch (Buch) und Kai Wessel (Regie) nutzen das Format sehr geschickt. Wo Serien gern mit einem „Was bisher geschah“ beginnen, starten die sechs Episoden von „Die verlorene Tochter“ immer mit den gleichen Bildern ausgelassen feiernder Jugendlicher beim Schulfest in einer nordhessischen Kleinstadt. Die Ereignisse werden aber jedes Mal aus der Perspektive einer anderen Figur gezeigt. So setzt sich nach und nach das Puzzle dieses mit einem kaltblütigen Verbrechen endenden Abends zusammen; am Schluss offenbart sich die ganze niederschmetternde Wahrheit.

Manche sind froh, dass Isa sich nicht erinnert

Im Kern klingt Jeltschs Geschichte übersichtlich: Zehn Jahre nach ihrem spurlosen Verschwinden während des Schulfests taucht Isa von Gems (Henriette Confurius), Spross einer Brauereidynastie und designierte Nachfolgerin ihres Vaters (Christian Berkel), wie aus dem Nichts wieder auf. Die Erinnerung an ihr altes Leben ist allerdings wie ausgelöscht. Auf dieser Basis entwirft das Drehbuch eine Handlung von eindrucksvoller Komplexität. Rund um die zentrale Figur hat Jeltsch ein namhaft und treffend besetztes Ensemble gruppiert: Für sieben Menschen hat sich das Dasein vor zehn Jahren grundlegend geändert, und nicht jeder freut sich über Isas Rückkehr. Bruder Philipp (Rick Okon) muss seine Anteile an der Brauerei nun wieder mit seiner Schwester teilen. Er will das vor großen finanziellen Herausforderungen stehende Unternehmen gegen den Willen von Vater Heinrich an einen amerikanischen Investor verkaufen; diese Pläne sind nun in Gefahr. Ebenfalls nur mäßig begeistert ist Jenny (Nina Gummich), Isas einstige beste Freundin. Isa wollte damals nach dem Fest mit Robert (Max von der Groeben) abhauen. Als sie nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen ist, hat sich Jenny als Trostpreis angeboten.

Die zweite Hauptfigur und eine ähnlich tragische Gestalt wie Isa ist Roberts Vater, Peter Wolff (Götz Schubert). Der Prolog verrät, dass der Polizist vor zehn Jahren ein Verhältnis mit Isas Mutter Sigrid (Claudia Michelsen) hatte. Das damals 16-jährige Mädchen hat die beiden während der Feier zufällig beim Sex im Auto gesehen, und zumindest in dieser Hinsicht ist Sigrid ganz froh, dass sich ihre Tochter an nichts mehr erinnern kann. Wolff war stets überzeugt, dass Isa noch lebt, und war wie besessen davon, sie zu finden; das hat erst seine Karriere und dann seine Ehe ruiniert, der Alkohol hat ihm dann den Rest gegeben. Isas Großmutter (Hildegard Schmahl) beauftragt ihn herauszufinden, wo ihre Enkelin die letzten Jahre verbracht hat.

Sie stellt sich die Frage aller Fragen

Während andere Produktionen dieser Art (etwa „Das Verschwinden“, ARD 2017) von der Suche handeln, beschreibt „Die verlorene Tochter“, wie Isa durch ihre Rückkehr alles durcheinanderbringt. Und natürlich ist es besonders reizvoll, dass sie sich die Fragen aller Fragen stellt: Wer bin ich? Zu den faszinierendsten und dank der Wandlungsfähigkeit von Henriette Confurius auch verblüffendsten Momenten gehören Isas Begegnungen mit ihrem jüngeren Alter Ego. Die Schauspielerin, die für das ZDF unter anderem bereits in den Mehrteilern „Die Wölfe“ (2009) und „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“ (2015, 2018) mitgewirkt hat und ihrer imposanten Filmografie zum Trotz immer noch erst Ende 20 ist, verkörpert die innere Zerrissenheit der jungen Frau mit großer Intensität; Alexander Fischerkoesens Bildgestaltung setzt ihre ohnehin rätselhaft anmutende Schönheit ins perfekte Licht. Jeltsch hat sich allerdings auch eine tolle Rolle ausgedacht: Schockiert blickt Isa in ihre eigenen Abgründe – das Monster sind nicht immer die anderen. Auch die weiteren Figuren haben ihre Geheimnisse. Eines ist besonders finster, und weil diese Person um jeden Preis verhindern will, dass es ans Licht kommt, ist schließlich Isas Leben in Gefahr.

Christian Jeltsch und Kai Wessel gehören zu den renommiertesten Vertretern ihrer Fächer, beide sind mit allen wichtigen Fernsehpreisen ausgezeichnet worden: Jeltsch unter anderem für „Einer geht noch“ (Grimme-Preis, 2001) und „Bella Block – Das Glück der Anderen“ (Deutscher Fernsehpreis, 2006), Wessel für „Leben wäre schön“ (Grimme-Preis, 2004) und „Zeit der Helden“ (Deutscher Fernsehpreis, 2013). Der Autor hat in den letzten 20 Jahren Vorlagen geliefert für Dutzende in der Regel sehenswerter TV-Produktionen; zu den bekanntesten Werken des Regisseurs gehört die Serie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ (1999), außerdem hat er einige bemerkenswerte Beiträge für die ZDF-Reihe „Spreewaldkrimi“ gedreht. „Die verlorene Tochter“ ist ihre erste Zusammenarbeit. Die Sorgfalt im Detail zeigt sich nicht zuletzt an den lautstark knarrenden Dielen im ansehnlichen Herrenhaus derer von Gems; das Geräusch steht für Tradition und Stil, lässt aber gleichzeitig erahnen, warum die junge Isa hier unbedingt rauswollte.

Ausstrahlung ZDF, 27., 29. und 30. 1., jeweils 20.15 Uhr in Doppelfolgen.