„Die Wahrheiten“ in Stuttgart uraufgeführt Geschlechterkampf im Wohnzimmer

Marietta Meguid als Sonja grübelt. Sie hat der Freundin ein Geheimnis verraten – wird sie es nun immer noch für sich behalten? Foto: Björn Klein

Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben mit „Die Wahrheiten“ ein Stück über Beziehungslügen und Sexismus geschrieben. Die Uraufführung in der Regie von Sophia Bodamer im Stuttgarter Kammertheater erkennt nicht die Stärken des Dramas.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - „Hallo Sonja und Bruno, wir haben beschlossen, den Kontakt zu euch abzubrechen. Wir wollen das nicht mit euch diskutieren. Jana und Erik.“ Wow. Sonja und Bruno schauen sich entgeistert an, verstehen die Welt nicht mehr. So eine Textnachricht auf dem Mobiltelefon von dem befreundeten Ehepaar – nach 17 Jahren Freundschaft.

 

Das ist mal eine Abfuhr! Und ein cleverer Start für ein Beziehungs- und Gesellschaftsdrama, erdacht von dem erfolgreichen Autoren-Duo Sarah Nemitz und Lutz Hübner. Natürlich ist das Uraufführungspublikum am Samstag im Stuttgarter Kammertheater ebenso brennend daran interessiert, was dahinter steckt, wie das Ehepaar, das gerade eben so schnöde abserviert wurde.

Sonja und Bruno rätseln, warum die Freunde Schluss gemacht haben

Bruno und Sonja werden gespielt von Michael Stiller und Marietta Meguid (sie waren auch kürzlich im „Iwanow“ im Stuttgarter Schauspielhaus als Ehepaar zu sehen). Ein Ehepaar, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Sie leben gut, trinken gern einen Riesling nach dem Kinobesuch, sie haben gute Jobs, die Kinder sind schon erwachsen. Das hat etwas Gediegenes, Sicheres. In dieses Wohlstandsidyll platzt nun eine Nachricht, die alles vergiftet. Auf der Bühne von Prisca Baumann werden jetzt die Wände im Wortsinn gerade gerückt, Perspektivwechsel geboten: Mehrere hintereinander gereihte Holzwände lassen sich von links nach rechts verschieben, in aufgeheizter Stimmung auch mal mit einem heftigen Rumms wegknallen.

Abgesehen davon, dass die Düpierten von dem schlechten Stil des anderen Pärchens überrascht sind, beginnen sie zu rätseln, was passiert sein könnte. Bruno reagiert wütend - „die ganzen Jahre, wo sie nicht klarkamen, haben wir sie gestützt, und jetzt, wo sie ausgesorgt haben, schießt man uns ab.“ Sonja will erst die Sache auf Bruno abwälzen – „irgendwas muss gewesen sein. Er hat an dich geschrieben“ –, reagiert dann nachdenklich.

Es folgt ein gut einstündiger Dialog, bei dem Geheimnisse und Verrat ans Licht kommen, auch in der eigenen Beziehung. Diese Rückschau ist den Autoren etwas episch geraten, weil Bruno und Sonja ausführlich Jana und Erik charakterisieren, die komplette Freundschaftsgeschichte und außerdem ihre eigene Beziehung und deren Historie erzählen.

Machtmissbrauch beim Coaching

Um dann zum Casus belli zu kommen: Bruno, Leiter einer Finanzagentur, hatte vor vier Jahren der frisch ausgebildeten Therapeutin Jana zu einem Coaching bei einem Führungskräfte-Seminar verholfen. Das ging schief, sie versagte, die Typen ließen sich nicht coachen, sie verlor die Nerven, reiste früher ab. Er werde bis heute auf „die Zicke“ angesprochen. So Brunos Sicht.

Einige Striche hätten dem Text und der Spannung gut getan, fast hat man schon die Neugier darauf verloren, was für Leute Jana und Erik wirklich sind und ob Bruno und Sonja mit ihrer Einschätzung der Lage richtig liegen. Dann doch noch ein Szenenwechsel: Der Filmjournalist Erik kommt heim, Jana verkündet einigermaßen unvermittelt, sie wolle mit Bruno nichts mehr zu tun haben.

Sie habe erst jetzt in einer Therapie und nach einem Gespräch mit einer engen Freundin, die vergewaltigt wurde, verstanden, dass sie nicht schuld war, sondern missbraucht wurde. Vor allem von Bruno, der sie „gezwungen“ habe, sich abends beim Essen und in der Bar von den Typen blöd anreden und an den Hintern fassen zu lassen und sie nicht in Schutz genommen habe.

Die Männer sind an allem schuld

Ist Janas Erfahrung Missbrauch? Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, welche Antwort sie geben würden, verengen die Regisseurin Sophia Bodamer und der Dramaturg Bastian Boß in der Produktion des Staatsschauspiels Stuttgart das Stück auf die Metoo-Debatte.

Zwar haben die Autoren die Figuren bereits so angelegt, dass die Männer eher klischeehaft männlich, aggressiv auf einen Konflikt reagieren, während die Frauen nicht minder klischeehaft weiblich den Dialog suchen. Doch der Text bietet die Möglichkeit, den Figuren Tiefe zuzugestehen. Denn in dem Stück geht es um mehr, auch die Frauen verfolgen Ziele, bei denen sie die Männer manipulieren oder nicht ernst nehmen.

Diese Stellen werden allerdings überspielt, unterspielt. Sonja zum Beispiel gibt zu, Jana ein Ehe-Geheimnis verraten zu haben. Die Regie gestattet nun Michael Stiller als Bruno aber nicht, verletzt auf den Verrat zu reagieren, sondern dreht in der Szene am Tempo. Bruno schreit, rastet aus. Marietta Meguids Sonja indes bleibt ruhig. So wirkt es, als sei lediglich Brunos Eitelkeit verletzt.

Auch zieht sie ihren Mann in anderen Angelegenheiten nicht ins Vertrauen, wehrt ihn mit Lore-Roman-Sätzen ab wie: Es gebe eben „Dinge, die die man besser mit Frauen bespricht“. Derlei wird von Marietta Meguids Sonja in einem nachsichtig weisen Ton formuliert, als solle gar kein Gedanke aufkommen, dass auch die Frau eine recht konventionelle Auffassung davon hat, was man einem Mann erzählen kann und was nicht.

Lutz Hübner und Sarah Nemitz gelingen rasante Dialoge

Gleichwohl gelingt es den Autoren, bei den Älteren noch besser, für eine gewisse Balance in den Geschlechterfragen zu sorgen. Sie geben auch in den zum Teil rasanten Dialogen den Schauspielern jede Menge Möglichkeiten, mal absurd witzige, mal liebevolle Szenen herauszuspielen. Hingegen sind bei dem jüngeren Paar keinerlei Ambivalenzen angelegt. Ja, diese Jana vonKatharina Hauterist feige, sie will Bruno nicht selbst die Freundschaft kündigen. Und als Sonja sie anruft, spricht sie nicht, doch sind ihr Schmerz und ihre Probleme stets nachvollziehbar. Eriks Sorge um die Frau hingegen wird als Angriff auf seine Männlichkeit herabgesetzt.

Marco Massafra als Erik strengt sich an, den umsorgenden Mann zu spielen, aber hat am wenigsten Chancen, der platten Figur Format zu verleihen. Ein heimlicher Ehebrecher, der vor Bruno Janas Therapeutin als „dumme Trutsche“ und „so eine Art Trüffelschwein für Missbrauchserfahrungen, Metoo“ herabsetzt. Janas Erzählung wehrt er ab mit „aber es ist vier Jahre her“ und redet das Grapschen klein, in der Art von „vielleicht war es ein Versehen“.

Dass dies selbstverständlich nicht die Antworten sind, die im 21. Jahrhundert auf derlei Konflikte gegeben werden können, darauf weist dieser Abend deutlich hin und verliert dabei leider eine andere Problematik aus dem Blick, wie fragwürdig Vertrauensbruch ist – und dass traditionelle Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur im Privaten toxisch sind.

Info

Die nächsten Aufführungen: 29. Januar, 17., 18. Februar, 28. und 30. Mai. Karten: 07 11 / 20 20 90.

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