Was passiert an der irischen Grenze? Wie lange dauern die Verhandlungen noch? Was will die britische Regierung? Ein Statusbericht der Brexit-Verhandlungen in Fragen und Antworten.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Vielen Briten wäre es inzwischen lieber, sie hätten das B-Wort nie gehört. Die Querelen rund um den Brexit zu ignorieren nützt aber nichts. Bis zum Jahresende muss ein Austrittsvertrag mit der EU stehen – sonst droht dem Vereinigten Königreich ein „Sturz von der Klippe“. Doch die Regierung treibt dem 29. März unentschieden entgegen.  

 
  Was könnte am 29. März passieren?
„Sturz von der Klippe“ nennen es diejenigen, die vor einem vertragslosen Abschied warnen – Konzern- und Gewerkschaftsbosse beispielsweise, die täglich mit neuen düsteren Voraussagen kommen. Ist bis zum Stichtag keine Vereinbarung erzielt, stürzt ihr Land ihrer Überzeugung nach in einen Abgrund von Problemen, den noch kaum jemand ermessen hat in Regierungskreisen. Der 29. März 2019 ist dabei der Tag, an dem die Briten „ohne Deal“ automatisch aus der EU ausscheiden würden: Genau zwei Jahre nach der formellen Aufkündigung der Mitgliedschaft durch die Premierministerin am 29. März 2017.  
Ist der Austrittsvertrag noch rechtzeitig hinzubekommen?
Das weiß niemand genau. Die Frist ist sogar noch knapper bemessen. Wegen des komplizierten Ratifizierungsprozesses muss der Vertrag beiden Seiten schon ein paar Monate vorher vorliegen. Ursprünglich war dafür der Oktober dieses Jahres angepeilt worden. Bisher sind aber zentrale Fragen noch ungeklärt – beispielsweise die Frage, was aus der inneririschen Grenze werden soll, wenn sie 2019 zur EU-Außengrenze wird. Damit verbunden: Wie kann der Frieden in Nordirland erhalten werden?    
Könnte der Austrittsvertrag an der Nordirlandfrage scheitern?
  Unmöglich ist das nicht. Zur Offenhaltung der Grenze, die May der EU zugesichert hat, hat sich bisher keine andere realistische Lösung gefunden als der Verbleib des ganzen Vereinigten Königreichs in der EU-Zollunion und in Teilen des EU-Binnenmarkts – oder aber die Vereinbarung einer gesamtirischen Wirtschaftszone. Beides hat May nachdrücklich abgelehnt. Letztere Idee stößt schon aufs Veto der Unionisten, auf die Mays Minderheitsregierung angewiesen ist. Und Mays Gegenvorschläge, überwiegend technologischer Art, sind von Dublin und Brüssel verworfen worden. An der Irland-Front rührt sich einstweilen nichts.
Was wollen die Briten sonst noch im Austrittsvertrag haben?
Zum einen eine Vereinbarung über eine Übergangszeit, damit im nächsten März nicht alles Knall auf Fall endet. Geplant ist im Augenblick eine Frist von 21 Monaten, also bis Dezember 2020, in der Großbritannien kein EU-Mitglied mehr wäre, in der aber handels- und grenzmäßig alles beim Alten bliebe. Darüber hinaus will London sein Verhältnis zur EU für die Zeit nach 2020 bereits vertraglich abgeklärt wissen. In der EU glaubt man allerdings, dass fürs Erste höchstens eine Absichtserklärung möglich wäre und der Rest bestenfalls im Laufe der Übergangszeit ausgehandelt werden kann.
Hat die britische Seite klare Vorstellungen von der Zukunft?  
Eben nicht. Das ist der Kern des Problems. Ein Teil der Minister Mays will der EU eng verbunden bleiben. Ein anderer Teil sucht die radikale Trennung vom Kontinent. Bisher hat es die Regierung nicht einmal geschafft, ein seit Langem angekündigtes Weißbuch zum künftigen Verhältnis Großbritanniens zur EU herauszugeben. Das soll nun nach dem EU-Gipfel nächster Woche geschehen. Auf einer zweiten Klausur des „Brexit-Kabinetts“ auf ihrem Landsitz Chequers im Juli will May erneut versuchen, eine gemeinsame Position für ihre Regierung zu finden. Bisher ist ihr das allerdings nicht gelungen. Kompromisse mit den Proeuropäern im Kabinett sind für Hardliner wie Brexit-Chef David Davis oder Außenminister Boris Johnson nicht drin.
Was wollen die „harten Brexiteers“ erreichen?  
Sie bestehen darauf, dass die Taue zur Zollunion und zum Binnenmarkt der EU vollständig gekappt werden. London soll nicht länger von EU-Vorschriften und von EU-Gerichtsentscheiden abhängig sein. Es soll künftig international eigene Handelsverträge schließen können. Und es soll keine größeren Beträge mehr an die EU überweisen. Offene Grenzen zu den EU-Nachbarn soll es natürlich auch nicht mehr geben, sobald die Übergangsfrist abgelaufen ist.
Wie viel Rückhalt haben Minister wie Davis und Johnson in Partei und Fraktion der Konservativen?  
Von den 316 Tory-Abgeordneten im Unterhaus vertritt etwa ein Fünftel dieselbe harte Linie wie sie. Die Parteirechte, angeführt vom Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, ist freilich überproportional einflussreich. Laut Tory-Statuten können bereits 48 Fraktionsmitglieder Theresa May das Misstrauen aussprechen und Neuwahlen zum Parteivorsitz verlangen. Die Hardliner haben May schon mehrfach mit Ablösung gedroht, so sie sich ihren „Wünschen“ widersetzen sollte. Ob sie den Sturz der Premierministerin tatsächlich wagen würden, ist dabei die große Frage, denn eine klare Parlamentsmehrheit für ihren Kurs würde auch ein Wechsel an der Spitze von Partei und Regierung nicht bringen.  
Haben sich die Brexiteers bisher nicht in allem durchgesetzt?
Die meisten Unterhaus-Abgeordneten haben beim Referendum von 2016 für den Verbleib in der EU plädiert. Nur die wenigsten wagen sich aber heute noch öffentlich zur Überzeugung zu bekennen, dass der Brexit für ihr Land äußerst schädlich sei. Von May und den Brexiteers wird ihnen regelmäßig deutlich gemacht, dass sie sich „dem Willen des Volkes“ nicht länger widersetzen dürfen. Während die meisten akzeptiert haben, dass es zum Brexit kommt, hoffen sie weiterhin auf eine möglichst enge Verbindung zur EU. Hier zeichnet sich für die nächsten Wochen und Monate, je näher es aufs Austrittsdatum zugeht, eine zähe Entscheidungsschlacht in beiden Kammern Westminsters ab.
Könnte es noch zu einem zweiten Brexit-Referendum kommen?
Ausgeschlossen ist es nicht, trotz des Widerstands von May und Corbyn. Hohe Wetten abschließen sollte man auf einen solchen Ausgang zurzeit aber nicht. Die Lage in London ist so unstabil und unübersichtlich, dass in den nächsten Monaten noch alles Mögliche passieren kann.