Die Suche nach Wahrheit kann ein Verbrechen sein: Elmar Goerden inszeniert Ibsens „Wildente“ im Stuttgarter Schauspielhaus. Schnoddrig im Ton und sehr heutig gewinnt er dem entrümpelten Klassiker überraschende Erkenntnisse ab.

Stuttgart - Die Bühne ist von einem kalten, klinischen und gar schmerzenden Weiß. Schräg in den Raum gestellt, erinnert sie an ein Labor, das allerdings nichts weiter beherbergt als das Setting für ein Clubkonzert: zwei Gitarren mit Verstärker, Lautsprecher und Mikrofon für die Musikerin Helena Daehler, die mit rauen Riffs und sanften Songs den Untergang einer Familie atmosphärisch pointiert und kommentiert. Denn darum geht es in Ibsens 1885 uraufgeführter „Wildente“: um den finanziellen und seelischen Ruin der Ekdals, die sich in einer Lebenslüge eingerichtet haben, aus der sie von einem plötzlich auftauchenden Freund aus alten Tagen herausmanövriert werden. Er heißt Gregers Werle und duldet keine Halbheiten. Muss man ihn deshalb mögen? Diesen Verfechter der unbedingten Wahrheit, der für seine Sache auch über Leichen geht?

 

Die Frage ist pikant, forderte doch auch Ibsen unerbittlich Wahrheit und Aufrichtigkeit ein – von sich selbst und von anderen. Die Heuchelei seiner Landsleute widerte ihn derart an, dass er Norwegen verließ und Jahrzehnte im Ausland verbrachte, in Rom, Dresden und München, wo er – nebenbei – zum Wegbereiter des Naturalismus wurde. Dass sich auch sein ganzes literarisches Werk gegen die Falschheit richtet, ist nur konsequent. „Dichten heißt, Gerichtstag halten über sein eigenes Ich“, lautet die berühmte Sentenz des Dramatikers, die als Motto auch über der „Wildente“ und obendrein über seinem Alter Ego stehen könnte, das er sich in Gestalt des jungen Werle geschaffen hat. Ibsens Urteil über sich selbst fällt allerdings nicht schmeichelhaft aus. Ausgesprochen wird es im fünften Akt vom Arzt Relling: „Wenn Sie einem Menschen die Lebenslüge nehmen“, sagt der Menschenkenner zum Wahrheitsfanatiker, „so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück“ – ein Satz, der kaum Raum für Interpretationen lässt.

Ineinander verstrickt mit Lug und Trug

Die Figur des Relling hat der Regisseur Elmar Goerden gestrichen. Gestrichen hat er auch weiteres Personal und sowieso das gesamte Mobiliar, mit dem Ibsen seine Innenräume pedantisch ausgestattet hat. Auf der leeren Bühne von Silvia Merlo und Ulf Stengl findet Goerden einen ganz eigenen Zugang zur „Wildente“ in einer Inszenierung, die er bereits vor fünf Jahren in Mannheim herausgebracht hat. Der Stuttgarter Intendant Burkhard Kosminski hat sie von seiner alten Wirkungsstätte nun an seine neue geholt. Und er tut gut daran, nicht nur unterm Aspekt des zügigen Repertoire-Aufbaus: Goerdens Sicht auf den entrümpelten Ibsen ist heutig und in den Dialogen angemessen schnoddrig. Stilsicher hält sie die Balance zwischen Tragödie und Komödie und überlässt die Diagnose des „Rechtschaffenheitsfiebers“ eben nicht Dr. Relling, sondern dem Zuschauer im Parkett.

Gregers Fieber entzündet sich an zwei in Lug und Trug miteinander verstrickten Familiengeschichten. Sie lesen sich wie eine Kolportage: Der alte Werle, Gregers Vater, hat einst das Hausmädchen geschwängert und es sodann mit dem Sohn seines Firmenkompagnon verheiratet. Also lebt der junge Hjalmar Ekdal, ohne es zu wissen, mit einem Kuckuckskind und, was er auch nicht weiß, vom Geld, das Werle seiner Frau heimlich zuschießt. Hjalmars finanzielle Notlage – er arbeitet als brotloser Fotograf – hängt mit dem Los seines Vaters zusammen, der für krumme Holzgeschäfte büßen musste, die er zwar zusammen mit seinem Kompagnon, dem alten Werle, begangen hat, für die aber nur er, der alte Ekdal, ins Gefängnis wanderte. Und das hat auch die Karriere des Sohns ruiniert, der sich aber dennoch ein prekäres Familienglück aufbauen konnte. So weit die Vorgeschichte – und jetzt kommt der Mann mit dem Wahrheitsfuror ins Spiel, der dem halbwegs zufriedenen Hjalmar die Augen für Täuschung und Selbsttäuschung öffnen will.

Heuchlerisch wie ein TV-Moderator

Behängt wie ein Abenteurer mit Seesack und Rucksack, stiefelt Reinhard Mahlberg als Gregers auf die Bühne – ein Grobian, der mit dem Handtuchzipfel in der Nase bohrt und Essensreste aus den Zähnen pult und feinmechanische Fähigkeiten auch als Manipulator von Menschen entwickelt. Hjalmar führt er in Trippelschritten zur Wahrheit – und die Regie lässt seine subtilen Manöver in einer Pantomime gipfeln, in deren Verlauf die im Gespinst der Abhängigkeiten lebenden Figuren ihre wahre, von allem Schein gereinigte Position einnehmen: eine Familienaufstellung, die Hjalmar erschüttert, an der sich Gregers aber bangend ergötzt wie der Moderator einer TV-Show, die vor laufender Kamera kaputte Familien angeblich wieder heil machen will.

Dass Gregers aber aus niederen Instinkten handelt, spielt Mahlberg ebenfalls präzise aus. Weinerlich regrediert er zum Mamasöhnchen, sobald der als Schande empfundene Selbstmord seiner Mutter erwähnt wird. Dafür, für die Schande, rächt er sich an Vater, der mit seinem Seitensprung die Mutter erst in die Verzweiflung getrieben hat: Auch Papas Lügen entlarvt er, dabei verkennend, dass er selbst in Lebenslügen haust. Gregers ist nicht der Gutmensch, für den er sich hält, er ist ein Zyniker und in seiner rücksichtslosen Rigorosität auch ein stramm gescheitelter Despot, der sich – und das ist der Clou des Abends mit der klinikweißen Bühne – moderner Psychotechniken bedient, um über andere Menschen zu verfügen: Goerdens „Wildente“ erweist sich nicht zuletzt als Abrechnung mit der Tyrannei von Therapeuten & Sekten, die Wahrheit und Erlösung predigen, aber Zerstörung und Vernichtung bringen.

Mit betörender Wunderlichkeit

Zum Opfer fällt dem Kreuzzug aber nicht nur Hjalmar, den der tolle Klaus Rodewald so lange als Langhaar-Schlaffie gibt, bis er seinen Vater mit schneidender Brüllstimme zur Rechenschaft zieht. Zum Opfer fällt ihm just an ihrem fünfzehnten Geburtstag auch Hedvig, von der sich Hjalmar lossagt, als er erfährt, dass sie nicht seine Tochter ist. Anne-Marie Lux, schon in den „Webern“ als enormes Talent aufgefallen, stattet ihre Figur abermals mit einer betörenden Wunderlichkeit aus. Forsch und verletzlich ist sie, naiv und altklug, Schnuten ziehend und Rätsel aufgebend, eine Rollschuh fahrende Göre mit versponnener Fantasie, die weiß, dass sie erblinden wird und doch mehr sieht als alle anderen. In einem mit Holzwolle gepolsterten Karton pflegt sie die titelgebende Wildente, die vom alten Werle angeschossen wurde und flügellahm ist – flügellahm wie ihre ganze, von Goerden in einer komischen Zwischenposse herrlich chaotisch gezeichnete Familie, für die sie sich aus Liebe opfert unterm destruktiven Einfluss des Gregers Werle.

Ganz auf Text und Spieler setzend, bringt Elmar Goerden seinen Ibsen ins letale Finale. Kein Staub, nirgends – und das liegt nicht nur an der aseptischen Bühne, sondern auch an der luziden Regie, die der betagten „Wildente“ im Schauspielhaus zum Höhenflug verhilft. Das Premierenpublikum spendete langen Beifall.