Die Weltmeisterschaft 2006 steht bis jetzt nicht im Fokus der Ermittler. Merkwürdigkeiten gibt es aber genügend. Und in diesen Tagen sollte man wohl für keinen Fußballfunktionär mehr die Hand ins Feuer legen.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Greg Dyke hat ziemlich viel zu sagen. Dyke ist der Präsident des englischen Fußball-Verbandes FA, und er ist einer der Chefkritiker des skandalumtosten Fußball-Weltverbandes Fifa. Dyke agiert so wortgewaltig, dass es einerseits eine wahre Freude ist, weil er für einen Funktionär ungewohnt undiplomatisch ist und oftmals das ausspricht, was viele Fußballfans denken. Andererseits ist das auf der Insel manch einem jetzt dann doch mittlerweile etwas zu viel des Guten. Der „Guardian“ aus London kommentierte dieser Tage scherzhaft: „Bitte, liebes FBI, untersucht die WM 1966 – und sei es nur, um Greg Dyke zum Schweigen zu bringen.“

 

Die WM 1966 in England ist natürlich nicht Gegenstand der Ermittlungen, wobei: noch nicht, schreibt man vielleicht besser, denn wer weiß schon, was demnächst noch alles an Absurditäten ans Licht kommen könnte. Außen vor ist derzeit übrigens ja auch das deutsche Sommermärchen 2006.

Die Fahnder des FBI in den USA konzentrieren sich aktuell auf die WM-Turniere 1998 und 2010. Für die gab der Kronzeuge Chuck Blazer bereits zu, bestochen worden zu ein, und auch von Jack Warner heißt es, dass er Ägypten, Kandidat für die WM 2010, damals seine Stimme für sieben Millionen Dollar angeboten haben soll. Neben diesen Vergaben gilt die Aufmerksamkeit bekanntlich den Turnieren 2018 (Russland) und 2022 (Katar) sowie dem Umfeld der WM 2014 in Brasilien. Das heißt: von den Weltmeisterschaften seit 1998 sind nur 2002 (Japan/Südkorea) und 2006 nicht offiziell im Visier der staatlichen Behörden.

Und das liegt angeblich daran: der frühere Bundesinnenminister Otto Schily hält wie auch immer geartete Versuche der finanziellen Einflussnahme im Zuge des Bewerbungsverfahrens für „ausgeschlossen“. Dass die WM nach Deutschland kam, das lag, sagt der heutige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, an einem ganz einfachen Fakt: „Ich darf immer daran erinnern, dass wir die absolut beste Bewerbung hatten.“

Ein korrektes Sommermärchen also?

Nun ja. Das kann man glauben. Beweise, dass es anders war, gibt es auch nicht. Aber es gibt Merkwürdigkeiten. Der Journalist Thomas Kistner hat in seinem 2012 erschienen Buch „Fifa-Mafia“ (Droemer Verlag), neben übrigens vielen anderen Details, die aktuell Wirbel machen, auch die seltsamen Umstände dargestellt, die im Juli 2000 zur WM-Vergabe führten. Damals setzte sich Deutschland im letzten Wahlgang mit 12:11 Stimmen gegen Südafrika durch. Mysteriöse Beraterverträge, Geschäfte mit Fifa-Funktionären, Freundschaftsspiele des Beckenbauer-Clubs Bayern München, dubiose TV-Verträge von Leo Kirch sowie Aktivitäten der Regierung wie auch großer Konzerne – das alles nährt den Verdacht, „dass für den schwarz-rot-goldenen Erfolg auf die branchenübliche Art nachgeholfen wurde“, schreibt Kistner.

Deutschland konkurrierte mit Brasilien, England, Marokko und Südafrika um die WM 2006. Im 24-köpfigen Exekutivkomitee galten die acht Stimmen Europas im Finale gegen Südafrika als sicher, weil zwei Jahre zuvor Sepp Blatter gegen den Willen Europas Fifa-Präsident geworden war. Blatter wollte nun die WM 2006 an Afrika vergeben, entsprechend war klar, dass Europas letzter Kandidat alle Stimmen vom Kontinent bekommen würde.

Deutschlands Spindoktoren mit dem umtriebigen Fedor Radmann an der Spitze brauchten aber weitere Stimmen. Die gab es vor allem in Asien mit vier Personen, die damals Exekutivmitglieder waren, zu holen, denn auch deren Vertreter waren auf Blatter nicht gut zu sprechen. Blatter hatte Asien einen im Wahlkampf versprochenen zusätzlichen WM-Startplatz vorenthalten.

Im Hintergrund wurde die Deutschland AG aktiv. Acht Tage vor der Entscheidung genehmigte der Bundessicherheitsrat der Regierung Schröder eine umstrittene Lieferung von 1200 Panzerfäusten nach Saudi-Arabien. Das saudische Exekutivmitglied stimmte für Deutschland. Ebenfalls im Juni kündigte Daimler-Chrysler an, sich mit mehreren Hundert Millionen Dollar am kriselnden südkoreanischen Autobauer Hyundai zu beteiligen. Das Fifa-Exekutivmitglied Chung Mong-joon, der Sohn des Hyundai-Gründers, stimmte später für Deutschland. Ebenfalls vor der Vergabe investierte Bayer in Südkorea und stellte Investitionen in Thailand in Aussicht. Das Exekutivmitglied aus Thailand stimmte für Deutschland.

Das war eine auffällige Ballung in zeitlicher Nähe zu dieser in Deutschland politisch wie wirtschaftlich forcierten WM-Bewerbung. Das alles habe nichts mit der WM zu tun, heißt es. Zufälle, „in weltrekordreifer Häufung“, schreibt Kistner. Wie so oft in diesem Metier sind die Grenzen fließend – zwischen legalem Lobbyismus und Geschäften mit ordentlichem Gschmäckle.

Aber es reicht noch nicht: Deutschland hatte am 6. Juli 2000 zwölf von 24 Stimmen zusammen, doch bei einem möglichen Patt wie in der zweiten Runde würde im letzten Durchgang die Stimme des Präsidenten doppelt zählen – und die WM 2006 hätte in Südafrika stattgefunden. Was dann folgte, ist bis heute ungeklärt: Der Vertreter Ozeaniens, Charles Dempsey, verließ vor dem entscheidenden Wahlgang den Raum.

Warum? Dempsey hatte von seiner Konföderation das Mandat, für Südafrika zu stimmen. Doch er gab keine Stimme ab, und Deutschland siegte 12:11. Gerüchte machen bis heute die Runde, von einem 250 000-Dollar-Geldkoffer war die Rede. Dempsey selbst sprach mal nebulös von „Druck durch einflussreiche europäische Interessengruppen“, Korruption bestritt er immer wieder. Auch beim DFB und anderen Beteiligten wird von haltlosen Unterstellungen gesprochen, wenn der Weg zum Sommermärchen derart hinterfragt wird.

Die Leichen im Fifa-Keller ergeben einen ganzen Friedhof

Wobei den Verdacht auch jener Mann genährt hat, der am Dienstag seinen Rücktritt angekündigt hat: Sepp Blatter. „Gekaufte WM – da erinnere ich mich an die WM-Vergabe für 2006, wo im letzten Moment jemand den Raum verließ.“ Diese wenig subtile Andeutung hat der Fifa-Präsident 2012 gemacht, als er aus Deutschland attackiert worden war. Blatter weiter: „Es steht plötzlich einer auf und geht.“

Vielleicht wird sich manches noch klären, schließlich steigt mit dem zunehmenden Ermittlungsdruck in den USA mutmaßlich auch der Redebedarf vieler involvierter Personen, die versucht sein könnten, die eigene Haut zu retten. Der FA-Chef Greg Dyke hatte ja schon gesagt, dass die einzige Erklärung für die Rücktrittsankündigung Blatters eine „smoking gun“ sei, die die Ermittler gefunden hätten. Er meint damit einen eindeutigen Beweis gegen Blatter. Denkbar ist das zumindest.

Nach all den sportpolitischen Leichen, die von den Forensikern des FBI in kurzer Zeit aus dem Fifa-Keller geholt wurden, ist es nur wahrscheinlich, dass dort unten ein ganzer Friedhof zu finden ist.