Das Interesse an einer Ansiedlung auf dem früheren Opel-Areal ist groß, aber es herrscht Mangel an industriellen Arbeitsplätzen.

Stuttgart - Es sind nicht viele Beispiele, die Andreas Behrendt einfallen. „Einer hat sich selbständig gemacht, der steht jetzt auf dem Wochenmarkt im Verkaufswagen“, erzählt der 60-Jährige über das Schicksal seiner früheren Kollegen im Betriebsrat und aus dem Bereich Planung bei Opel in Bochum; dort ist vor drei Jahren das letzte Auto vom Band gerollt und die Fabrik wurde dichtgemacht. „Eine Kollegin macht jetzt eine Ausbildung zur Therapeutin, eine andere ist Hebamme geworden“, weiß Behrendt aus den regelmäßigen Kontakten. „Von denen, die aufgrund ihres Alters noch etwas für die Rente tun müssten, fällt mir keiner ein, der was Hundertprozentiges hat“, sagt Behrendt. Auch er selbst ist arbeitslos, muss sich aber aufgrund der finanziellen Absicherung bei der Schließung keine materiellen Sorgen machen.

 

Noch hofft die Stadt auf einen Käufer

Gleichwohl beschleicht ihn, der mehr als 40 Jahre für Opel in Bochum gearbeitet hat, beim Anblick der drei ehemaligen Standorte in der Stadt Wehmut. Einst haben mehr als 20 000 Menschen hier für den Autohersteller gearbeitet, jetzt wirkt vor allem das Gelände des Montagewerks (interne Bezeichnung: Werk I) wie eine Brache; ein Eindruck, den das feuchte und triste Dezember-Wetter noch verstärkt. Nur wenig steht hier noch. Behrendt zeigt auf den riesigen Backsteinbau des einstigen Presswerks: „Das Gebäude steht auf Beton- und Stahlsäulen, ich weiß nicht wie viele Meter im Erdreich drin.“ Früher wurde hier Kohle gefördert, weshalb beim Bau Anfang der Sechziger Jahre auf die Stabilität besonderes Augenmerk gerichtet wurde. Das hat aber bisher ebenso wenig einen Investor anlocken können wie die rekordverdächtigen Ausmaße der Halle. Am Ende bleibt womöglich nur der Abriss. Der Leerstand zeigt dem gelernten Werkzeugmacher Behrendt vor allem eines: „Es fehlen hier einfach industrielle Arbeitsplätze, nicht nur in Bochum, sondern auch anderswo im Revier.“

Neue Jobs stehen auf dem alten Opel-Gelände durchaus in Aussicht, aber die Industrie hält sich fern. So steht neben dem Presswerk auf dem Gelände von Werk I im Stadtteil Laer noch die frühere Hauptverwaltung, die auf den ersten Blick mit ihrer maroden Fenstern und schief daran hängenden Jalousien auf den Abriss zu warten scheint. Doch dieser Eindruck trügt. Der Immobilienentwickler Landmarken aus Aachen hat das Gebäude gekauft und will Ende März bekannt geben, welche Mieter sich später einmal auf den 12 000 Quadratmetern Fläche an der Wittener Straße in Büros, Gastronomie sowie Ausstellungs- und Laborflächen breit machen werden. Geplant sind 700 Beschäftigte – und ein neuer Name: Innovation Campus.

Die Post ist mit ihrem DHL-Paketzentrum der Anker-Investor

Auf der anderen Seite der Wittener Straße, außerhalb des ehemaligen Werksgeländes, bietet sich ein ähnliches Bild. Da, wo früher die fertigen Autos abgestellt wurden, so erzählt der Bochumer Wirtschaftsförderer Rolf Heyer, entsteht gerade ein neues Bürogebäude, das der Bauherr Harpen Immobilien aus Dortmund bereits Ende Januar in Betrieb nimmt. Als erstes werden neben der Ruhrgebiets-Niederlassung des Bauunternehmens Goldbeck aus Bielefeld zwei Start-ups einziehen; Platz ist hier für 200 Mitarbeiter.

Der größte Investor auf dem sanierten Gelände ist die Post, die hier bis 2019 ein DHL-Paketzentrum bauen will. Große Logistikzentren haben Dimensionen, die nicht nur im fußballverrückten Ruhrgebiet gerne durch ein Vielfaches eines Fußballplatzes verdeutlicht werden. Also: In das Gebäude des DHL-Zentrums würden fünf Fußballfelder passen. Bis zu 600 sozialversicherungspflichtige und tarifgebundene Jobs sollen hier geschaffen werden, hieß es bei der Vertragsunterzeichnung.

Das warenverteilzentrum verbindet Opel und Bochum

Das klingt zwar gut, ist gemessen an der riesigen Fläche aber wenig – und üblich in der Logistikbranche. Andreas Behrendt kennt diese Welt durchaus, denn Opel hat in Bochum im Stadtteil Langendreer ein Warenverteilzentrum, das gerade erst erweitert wurde und nunmehr die verbliebene Verbindung zwischen dem Autobauer und der Stadt darstellt. Ein Neubau mit einer Fläche von 95 000 Quadratmetern – mehr als 13 Fußballfelder – ergänzt das seit 1966 bestehende Zentrallager für Ersatzteile und Zubehör. Aber grundsätzlich werden in der Logistik niedrigere Löhne gezahlt als in der Industrie.

Selbst Metall-Tariflöhne üben keinen großen Anreiz aus

Und das schmälert die Attraktivität, selbst wenn es im Einzelfall nicht stimmt: Im Opel-Warenverteilzentrum gilt der Flächentarifvertrag der IG Metall. 265 Mitarbeiter hatten nach der Schließung von Werk I die Möglichkeit, dorthin zu wechseln. Dass die Zahl der Bewerbungen nur geringfügig höher war, versteht Behrendt nicht: „Ich hätte erwartet, dass sich die Leute massenhaft bewerben“, sagt er.

Aber offenbar wollen die Leute einfach nicht aus der Industrie in die Logistik. Auch Behrendt wiederholt sein Credo: „Was wir brauchen, sind Industriearbeitsplätze.“ Bochums OB Thomas Eiskirch, der seit gut zwei Jahren im Amt ist, preist DHL zwar als Anker-Investor auf dem Areal, sieht die Frage der Struktur aber grundsätzlich gar nicht anders als der ehemalige Opelaner: „Natürlich brauchen wir auf dem Gelände auch Produktion, damit die Mischung stimmt.“ Das soll jetzt, nachdem der erste Bauabschnitt komplett saniert und verkauft ist, mit den Bauabschnitten zwei und drei in Angriff genommen werden. „Ich glaube aber nicht“, sagt der OB, „dass es auf eine Industriefläche hinausläuft, auf der es dampft, hämmert und laut ist.“

Bochum will mit dem Pfund IT-Sicherheit wuchern

Was dann? Bochum ist aus Sicht des Sozialdemokraten durch die Ruhr-Universität und ihr Horst-Görtz-Institut führend auf dem Gebiet der IT-Sicherheit. „Das schafft die Möglichkeit, eine der wichtigen Marktschranken bei Industrie 4.0 ebenso wie bei der Elektromobilität und dem Autonomen Fahren zu beseitigen“, sagt Eiskirch. „Ich bin überzeugt davon, dass es viele Unternehmen spannend finden werden, das hier zu erproben.“ Beispiele für privatwirtschaftliche Investoren gibt es noch nicht, aber immerhin kommt mit dem Dienstleister Dekra aus Stuttgart ein technisch orientiertes Unternehmen nach Bochum, das viele Ingenieure beschäftigt.

Aus der Sicht von Eiskirch kann sich die Bilanz nach der Schließung von Opel sehen lassen. Der OB: „Wir haben auf den Flächen, die bereits saniert und veräußert sind, Arbeitsplatzzusagen für die Zahl von mehr als der Hälfte der Arbeitsplätze, die es am Ende bei Opel gab. Wir sind in der Zusage bei 2100 Jobs.“ Mit Blick auf die Zukunft wagt sich der 47-Jährige weit vor: „Meine Prognose ist, dass Ende 2025 annähernd doppelt so viele Menschen auf dem früheren Opel-Gelände arbeiten werden wie zum Ende der Autoproduktion.“

Selbstbewusst behauptet der frühere Landtagsabgeordnete, dass Bochum den Strukturwandel gelernt habe. In der Tat ging hier das Kohlezeitalter früher als anderswo im Ruhrgebiet zuende, Anfang der Sechziger Jahre war sogar von der „Stadt des Zechensterbens“ die Rede. Bereits 1973 machte der letzte Bergbaubetrieb zu. Und mit der Ansiedlung von Opel konnte die Kommune einen Coup landen, um den die Nachbarn sie beneideten.

Die Ruhrbarone haben den schnellen Wandel verhindert

Überall bremsten die Ruhrbarone und Großgrundbesitzer wie Thyssen, Stinnes, Krupp, Flick und Hoesch den Strukturwandel, indem sie keine Grundstücke für Neuansiedlungen hergaben. Denn sie befürchteten, dass ihre Mitarbeiter in Scharen aus der gesundheitsschädlichen Tätigkeit im Bergbau in die zudem noch besser bezahlte Industriearbeit abwandern würden. Und deshalb holten sich die Opel-Emissäre in Gelsenkirchen einen Korb, als sie ihr neues Werk zunächst dort bauen wollten. Auch Rheinhausen musste nach dem Veto von Krupp abwinken. Genauso erging es Ford auf der Suche nach einem zweiten deutschen Standort neben dem Hauptwerk in Köln. Essen konnte aufgrund der Blockade der Ruhrbarone ebensowenig die erforderlichen Grundstücke zur Verfügung stellen wie Herten. Ford musste deshalb nach Genk/Belgien ausweichen.

Bochum konnte Opel als Arbeitgeber gewinnen, weil es zuvor der kriselnden Gelsenkirchener Bergwerks-AG die Zechen Dannenbaum (Stadtteil Laer) und Bruchstraße (Langendreer) abkaufte und den Verkäufer im Unklaren über den Investor ließ. Die Blockadepolitik der Ruhrbarone war in den 60-er Jahren in aller Munde. So empörte sich Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) im Bundestag: „Die Zechengesellschaften haben einen riesigen Grundbesitz. Wir könnten“, so hat ihn die Zeitung „Die Zeit“ zitiert, „heute im Bergbau von einer Bodensperre sprechen, einer Bodensperre, die … den Ansiedlungswilligen fernhält.“ Der damalige SPD-Fraktionschef Helmut Schmidt sprach von „mittelalterlicher Monopolbodenpolitik“ in vielen Fällen. Kurzzeitig wurde sogar „ein verkürztes und hartes“ Enteignungsverfahren erwogen; daraus wurde aber nichts.

Viele hausgemacht Gründe haben zu dem Aus geführt

Der frühere Opel-Betriebsrat Andreas Behrendt betrachtet das Ende der Autoproduktion in Bochum nun aber keineswegs als Beleg dafür, dass ein neuerlicher Strukturwandel nun weg von der Industrie führt. Für die Schließung gibt es aus seiner Sicht viele Gründe, die alle hausgemacht sind – von der verfehlten Modell-, Standort- und Sparpolitik des Mutterkonzerns General Motors bis zur fehlenden Solidarität im Opel-Betriebsrat. „Das Aus war beschlossene Sache. Das konnte keiner mehr verhindern.“ Womöglich, so orakelt Behrendt, wäre Opel heute froh, Bochum noch zu haben. Denn das Volumenmodell Astra, dessen Vorläufer Kadett einst die Basis für Opel in Bochum war, kommt jetzt komplett aus dem Ausland und zu einem großen Teil aus dem künftigen Nicht-EU-Land England. Zweiter Standort ist Gliwice/Polen.

„Es darf nichts kosten“, war so ein Satz, den Behrendt immer wieder hören musste. Betriebswirtschaftliches Denken muss man ihm, der sich jahrelang in der Abteilung Industrial Engineering mit Kostenvergleichen und Einsparmöglichkeiten beschäftigt hat, nicht beibringen. Als er in Langendreer am Zaun des Zentrallagers für Ersatzteile und Zubehör steht, muss er trotz der bitteren Erinnerungen beim Anblick der Schilder lachen, die mögliche Zaunkletterer vor dem Einsatz von Überwachungskameras warnen. „Die Schilder haben wir damals nach einem Einbruch dort angebracht“, erinnert er sich. „Im Elektrofachmarkt haben wir dann ein paar Videokameras gekauft, die einigermaßen funktionierten. Alles andere waren Attrappen. Es durfte ja nichts kosten.“