In einer Reihe von Gastbeiträgen will die StZ eine Debatte über die Zukunft der Stadt anstoßen. Heute: Susanne Eisenmann über alte Entscheidungsmuster.

Stuttgart - Hinter dem Streit um Stuttgart 21 steht eine grundlegende Frage: Kann sich unsere Gesellschaft noch über tiefgreifende Reformen und große Projekte verständigen? Diese zentrale Frage lässt sich für die Zukunft jedoch nur dann beantworten, wenn gleichermaßen hinterfragt wird, warum gerade einem seit siebzehn Jahren auf allen politischen Ebenen legitimierten Projekt wie S 21 in großen Teilen der Bevölkerung die Akzeptanz abhandengekommen zu sein scheint.

Ich teile dabei nicht die immer wieder vorgetragene These von der weitreichenden Gefährdung der repräsentativen Demokratie. Vielmehr verliert offensichtlich eine "Zauberformel der Bundesrepublik", wie es der Soziologe Niklas Luhmann einmal definierte, zunehmend an Bedeutung: Legitimation durch Verfahren. Vereinfacht besagte diese, dass langwierige Aushandlungsprozesse, die möglichst viele Interessen berücksichtigen, am Ende nicht nur gute Entscheidungen hervorbringen, sondern eben gerade auch breite Zustimmung erzeugen. Und damit jenen Grundkonsens bewirken, den tiefgreifende Reformen und große Projekte benötigen. So sind Planfeststellungsverfahren beispielsweise eigens dafür entwickelt worden, um alle möglichen Bedenken auszuräumen. "Legitimation durch Verfahren" - diese Methode scheint zunehmend an Wirkung zu verlieren. Übrigens nicht nur in Stuttgart, aber hier besonders offenkundig.

Die Politik hat zu lange und zu ausschließlich auf die Akzeptanz von rechtsstaatlichen und parlamentarischen Entscheidungen gesetzt, ohne zu bemerken, dass deren kollektive Bindungskraft zunehmend verloren geht. Die erwähnten Verfahren funktionieren offensichtlich nicht mehr so wie früher, aber warum nicht und warum jetzt nicht?

Verspielter Vertrauensvorschuss


Ein ganz wesentlicher Grund ist sicher die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise. Über Jahrzehnte hinweg war man vom starken Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes geprägt. Dieser Glaube wurde in den vergangenen Jahren massiv erschüttert, und es erfolgte in der Krise eine nahezu reflexartige Hinwendung zum Staat. Diese Vertrauensverlagerung hin zum Staat war durchaus logisch und nachvollziehbar angesichts der einschneidenden Bedeutung dieser weltweiten Krise. So zwangsläufig das Vertrauen in den Staat wuchs ("der wird's schon richten"), so zwangsläufig schwächte sich dadurch die Zivilgesellschaft als Ganzes. Deshalb wurden milliardenschwere Staatshilfen für ein angeschlagenes Bankensystem während der Krise als weitgehend alternativlos akzeptiert. Warum aber derselbe Staat denselben nutznießenden Banken hohe Bonizahlungen an Manager nicht untersagen kann, erscheint vielen Bürgern als unerklärlich. Politik und Staat wirken hilflos und erklären sich oftmals dann auch noch selbst als machtlos. Zurückgeblieben ist eine tiefe Unzufriedenheit, gepaart mit der intuitiven Erkenntnis, dass vieles in sich nicht mehr stimmig ist. Und der Vertrauensverlust in Staat und Politik wächst.

Legitimation durch Kommunikation


Der Bürger mischt sich deshalb direkt ein, nicht nur in Stuttgart, sondern zunehmend allerorts. Und die Politik muss daraus lernen, die Bürger künftig bei Entscheidungen durchgängig stärker einzubinden: "Legitimation durch Verfahren" muss ersetzt werden durch "Legitimation durch Kommunikation im Verfahren". Politische Gemeinschaft braucht den kritischen Diskurs, um die bestmögliche Entscheidung zu bewirken.

Möchte man die Menschen künftig für große Projekte gewinnen, wird man immer wieder erklären müssen: Warum jetzt? Warum so? Warum hier? Manchem Befürworter eines Projektes mögen solche Fragen als überflüssig oder als absurd erscheinen. Da die Akzeptanz der Legitimation von Entscheidungen jedoch erkennbar abgenommen hat, muss respektiert werden, dass der politische Bürger, der sich im Übrigen in allen Schichten und in allen Altersgruppen wiederfindet, wie der Protest um S 21 deutlich zeigt, in den verschiedenen Phasen beteiligt sein will.

Schon die Tatsache, dass solch große Projekte zwangsläufig jahrelange Genehmigungsverfahren mit sich bringen, bewirkt, dass sich die Gesellschaft bis zum Ende des Prozesses verändert hat. Die heute zwanzig- bis dreißigjährigen Stuttgarter konnten altersbedingt den Verfahrensablauf gar nicht begleiten, sind inzwischen aber entscheidungsberechtigte Bürger und bilden sich jetzt ihre Meinung. Sie erwarten, dass man es ihnen jetzt erklärt und sie jetzt einbindet. Kann man diesen Menschen das wirklich vorwerfen? Politik hat die Aufgabe, auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und trotzdem verlässlich zu bleiben. Diese Aufgabe wird aufgrund der dargestellten veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und einer schwindenden Bindungskraft von getroffenen Entscheidungen immer schwerer. Tragfähige politische Kompromisse sind angesichts einer Gesellschaft, die im Hinblick auf die zu schließenden Kompromisse immer anspruchsvoller wird, kaum noch zu entwickeln.