Plötzlich ist der Zahnarzt weg, das eigene Wohnmobil unerreichbar und der Stammtisch liegt mitten in der Umweltzone. Viele Menschen in und um Stuttgart stellt das Fahrverbot für Fahrzeuge der Schadstoffnorm Euro 4 vor Herausforderungen. Ein Lagebericht.

Stuttgart - Das Dieselfahrverbot bereitet Heiner Roscher Zahnschmerzen – im wahrsten Sinne des Wortes. Über 40 Jahre war der gebürtige Hamburger Patient in seiner Lieblingszahnarztpraxis. Mindestens einmal im Jahr fuhr er von Ostfildern nach Plieningen und ließ sich dort durchchecken. „Ich habe mich da wohlgefühlt“, sagt Roscher. „Schon mein Schwiegervater war in dieser Praxis.“ Nun jedoch sieht er sich gezwungen, die Familientradition zu beenden. Der Grund: das Dieselfahrverbot. „Der Weg würde durch die neu ernannte Umweltzone führen. Mit meinem Auto ist das unmöglich“, sagt er. Die öffentlichen Verkehrsmittel als Alternative zu nutzen sei für ihn ebenfalls ausgeschlossen. Zu beschwerlich sei die einstündige Fahrt, bei der er umsteigen und lange Fußwege in Kauf nehmen müsse, sagt der 79-Jährige.

 

Heiner Roscher ist nicht der Einzige, der sich vom Dieselfahrverbot getroffen fühlt. Viele Bürger haben das ungute Gefühl, zu Unrecht Nachteile schultern zu müssen. So beispielsweise auch Kurt Braun: Seit über 30 Jahren lebt der ehemalige Marketing-Manager in Gerlingen. Gemeinsam mit seiner Frau unternimmt er an den Wochenenden gerne kleine Touren in seinem Wohnmobil – doch das steht auf einem Stellplatz in Korntal-Münchingen. „Der schnellste Weg dorthin führt durch das Stadtgebiet“, sagt er. Um mit dem Wohnmobil zu sich nach Hause zu kommen und dort zu packen, müsse er deshalb ab jetzt große Umwege in Kauf nehmen.

Durch Umwege werden umliegende Gemeinden belastet

Eine Sondergenehmigung, die es für Wohnmobile, die zu Urlaubszwecken verwendet werden, grundsätzlich gibt, wurde abgelehnt. Der Grund: Braun muss mit seinem Mobil zwar durch die Umweltzone, weder Start- noch Endpunkt liegen jedoch im Stuttgarter Stadtgebiet. „Er muss drum herumfahren“, bestätigt Jasmin Bühler von der Stadt Stuttgart. „Das Land hat vorgeschrieben, dass das Fahrverbot für die Stadtregion Stuttgart gilt. Dass man da durchfahren kann, ist nicht vorgesehen.“

Brauns Auffassung nach hat das jedoch Konsequenzen: Menschen, die sich nun neue Wege um die Umweltzone herum suchen müssen, würden umliegende Gemeinden und Dörfer belasten, kritisiert er: „Die Stadt Stuttgart kippt ihren Müll einfach nach außen.“ Die Gemeinden spüren von dieser Belastung bisher allerdings wenig. In Filderstadt zum Beispiel habe man subjektiv keinen Anlass, von mehr Verkehr auszugehen, so die Pressestelle. „Man könnte das auch kaum messen“, gibt zudem Benita Röser, Pressesprecherin in Korntal-Münchingen, zu bedenken. Dennoch sei ihr aufgefallen, dass die Menschen besorgt auf das Verbot reagierten: „Uns erreichen Anfragen, von wo nach wo man noch fahren darf.“

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Viele Bürger versuchen auch, sich mit einer Sondergenehmigung zu helfen: 5433 entsprechende Anträge sind bis zum vergangenen Freitag bei der Stadt eingegangen. Ein Drittel davon komme vorsorglich von Stuttgartern, die erst ab April vom Fahrverbot betroffen seien, sagt Bühler. „Bisher werden deswegen nur die Schreiben von Auswärtigen bearbeitet.“ 1144 Anträge seien im Zuge dessen genehmigt, 1591 abgelehnt worden. Grundsätzlich müssten die Fahrzeughalter ein berechtigtes Interesse an einer Ausnahmeregelung nachweisen. „In Stuttgart zu arbeiten ist noch kein ausreichender Grund“, sagt Bühler.

Rolf Schippert hingegen hatte Glück: Immer wieder fuhr der heute 80-Jährige aus Schlechtbach in den vergangenen Jahren zum StN-Stammtisch ins Stuttgarter Zeppelin-Stüble. Als das Fahrverbot kam, dachte er, die geselligen Abende seien für ihn passé. „Aber die Stadt hat mir eine Sondergenehmigung wegen meines Behindertenstatus gegeben“, so Schippert.

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Ähnlich könnte es auch Marc Hemmerich und seinem Großvater ergehen. Alle paar Wochen holt Ersterer seinen 96-jährigen Opa in Heumaden ab, um den Tag mit ihm zu verbringen. „Einmal die Woche nimmt ihn auch mein Vater mit zu sich nach Ostfildern“, sagt Hemmerich. Da beide jedoch Euro-4-Diesel fahren, hat dies nun vorerst ein Ende. Da der Großvater, der auf einem Auge blind ist, jedoch nur noch schwer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurechtkommt, hofft Hemmerich auf eine Ausnahmeregelung: „Ich habe eine Sondergenehmigung wegen des Behindertenstatus beantragt“, sagt er.

Keine Ausnahmeregelungen für Ärzte

Einfacher haben es in diesem Bereich Berufsgruppen wie die Handwerker: „Für sie gilt eine generelle Ausnahmeregelung“, so Julia Fuchs, Pressereferentin der Handwerkskammer Stuttgart. Allen Betroffenen habe sie bisher gute Nachrichten überbringen können. „Handwerker dürfen ohne Sondergenehmigung fahren.“ Ein Bauträger, der nicht namentlich genannt werden möchte, hat jedoch Schwierigkeiten. Er besitzt rund 60 Mietwohnungen in der Innenstadt. Mit ihren Euro-4-Dieseln könnten der von ihm beschäftigte Installateur und Klempner die Wohnungen nun nicht mehr erreichen. Fünf Sondergenehmigungen hat der Bauträger daher beantragt, unter anderem für seinen VW Phaeton, eine große Limousine, mit dem er auch Baugeräte, zum Beispiel eine Hilti, transportiere. „Bei diesem Fahrzeug hat die Stadt die Genehmigung abgelehnt“, sagt der Unternehmer aus Remshalden. Nachvollziehen kann er das nicht.

Jasmin Bühler hingegen verweist auf den Luftreinhalteplan. Für Handwerksbetriebe gelte, dass Werkstattwagen und Materialien transportierende Fahrzeuge, die unbedingt vor Ort sein müssten, keine Genehmigung bräuchten. „Ich kenne den konkreten Fall nicht. Aber wenn er die Kriterien erfüllt, darf der Mann fahren“, so Bühler.