Digitale Mauern Das Internet zerbricht

Die Idee des World Wide Web – freier Zugang zu Informationen und Menschen – ist tot. Millionen Nutzer koppeln sich ab vom freien Internet und viele Staaten planen neue digitale Grenzen.
Zürich - Wenn man Paul Fehlinger fragt, wie es dem Internet gehe, fährt sich der junge Politikwissenschafter durchs Haar. Dann durch den Bart. Eine schwierige Frage. Er soll es ja zusammenhalten, das Internet. Das ist die Mission der Organisation, die er mitgegründet hat. Aber das wird immer komplizierter. „Das globale Internet ist keine Naturgegebenheit“, sagt Fehlinger schließlich. „Es steht keineswegs fest, dass es weiterhin ein globales Netz geben wird.“
Aber genau darum ging es mal im World Wide Web: Plötzlich stand die ganze Welt offen. 2,7 Milliarden Menschen sind heute im Netz. Grenzenlose Märkte, grenzenlose Freundschaften – jeder konnte sich mit jedem vernetzen. Worldwide – das war das Lebensgefühl der Epoche, in der Fehlinger aufwuchs. In den Unis übten Studenten das Kontaktieren von Unternehmensführern, aus Pakistan twitterte ein Dorfbewohner die Tötung bin Ladens an den Rest der Welt. In der Grenzenlosigkeit besteht der Wert des Internets. Doch jetzt fällt es auseinander. Unternehmer und die Führer der sogenannten technischen Gemeinschaft sprechen von der „Fragmentierung“ des Webs. Paul Fehlingers Organisation „Internet & Jurisdiction Project“ will das verhindern.
Die Welt hat erkannt, dass alle nackt sind
Der Zerfall ist offenbar derart dramatisch, dass sich im Dezember die größten Unternehmen des Webs mit einem Appell an die Welt wandten: AOL, Yahoo, LinkedIn, Google, Apple, Microsoft, Twitter und Facebook, eine eigentlich undenkbare Allianz von Konkurrenten, veröffentlichten einen offenen Brief „an die Regierungen der Welt“. In großen Anzeigen unter anderem in der „New York Times“ forderten sie die „Respektierung des internationalen Datenverkehrs“.
Auslöser dieses Alarmrufs ist die NSA-Abhöraffäre. Plötzlich wurde allen klar, wie begehrt unsere Daten im Netz sind. Sie sind Macht und Kapital. Es ist, als hätte die Welt plötzlich erkannt, dass alle nackt sind. Die Folge ist ein Wettkampf von Staaten, Firmen und Privatpersonen mit ihren Überwachern. Wer kann, versteckt sich, flieht oder stülpt sich eine Tarnkappe aus Verschlüsselungs-Algorithmen über.
Der Zerfall findet an drei Fronten statt: Erstens bilden sich geschlossene Netzwerke innerhalb des Internet. Suchmaschinen können darauf nicht mehr zugreifen. Populär ist beispielsweise das anonymisierte Tor-Netz, in welches man durch eine spezielle Tür eintritt und das dann die Spuren von Datenanbietern und Nachfragern verschleiert. Was oft als „Darknet“ bezeichnet wird, sind versteckte, geschlossene Netzwerke zwischen „befreundeten“ Computern. Tote Briefkästen, geschützte Versammlungsorte, die nur bestimmte Menschen kennen. Das „Deep Web“ schließlich ist ein schwer auffindbares und immer größer werdendes Netz, in dem viele Informationen verschwinden, die davor den Wert des Internets für alle erhöhten.
Zweitens verlassen viele Nutzer, die dem Internet nicht mehr alles anvertrauen, Websites und nutzen zusehends direkte Kanäle, um Intimes zu kommunizieren. Auf Mobiltelefonen laufen Programme wie Whatsapp, eine Mobil-Applikation für Textnachrichten und Bilder. Sie lassen ihre Daten zwar durch die Kabel des Internets laufen, entziehen sich aber dem öffentlichen Blick. Manche setzen sogar wieder auf Briefe oder Gespräche.
Brasilien besitzt eine eigene Internetverfassung
Drittens, und das ist die dramatischste Entwicklung, kapseln sich immer mehr Länder vom freien Datenstrom ab. Sie legen Grenzen um ihr Internet, angeblich um ihre Bürger zu schützen. Als Anfang September herauskam, dass die USA die Staatsführer von Brasilien und Mexiko abhörte, reagierte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff schnell. Am 24. September erklärte Rousseff in einer Rede vor den UN die Verabschiedung einer „Internet-Verfassung für Brasilien“ zur Priorität.
Ihr „Marco Civil da Internet“ ist typisch für eine wachsende Zahl staatlicher Kampagnen mit dem Ziel nationaler „Datenhoheit“. Wenn er in Kraft tritt, muss künftig jeder, der in Brasiliens Internet auftauchen will, seine Daten auch auf Servern im Land speichern. Zudem soll der Datenstrom kanalisiert werden. Anbieter von Webinhalten in Brasilien können außerdem zukünftig verpflichtet werden, einen Vertreter im Land zu haben. Der Blog eines russischen Oppositionellen oder einer ägyptischen Journalistin könnten in Brasilien nicht mehr aufgerufen werden, es sei denn, sie würden einen Stellvertreter in Brasilien bezahlen.
Stark abgeschirmtes Internet existiert bereits
Kurz nach Rousseffs UN-Auftritt kam eine ähnliche Entwicklung in Deutschland in Gang. In der Folge der Abhöraffäre wurden Pläne laut, ein deutschlandspezifisches „Internetz“ einzurichten. „Die Deutsche Telekom will ( . . .) ein rein deutsches Internet bauen. Datenpakete sollen in Zukunft so gelenkt werden, dass sie nur über deutsche Leitungen verschickt werden, wenn sie einen hiesigen Absender und Empfänger haben“, schrieb der „Der Spiegel“.
In einer der größten Internetnationen der Welt wurde der Ausstieg diskutiert. Man müsse „nur noch einen“ Datenknotenpunkt errichten, um ein „unabhängiges Internet“ zu schaffen. „Schlandnetz“, lachten manche. Derweil überlegten Postvertreter die Einführung einer abhörsicheren, an den Ausweis gekoppelten „Deutschlandmail“. Ähnliche Pläne hatte kurz zuvor der Iran geäußert. National mehr oder minder stark abgeschirmte „Internets“ existieren in Ländern mit stark eingeschränkter Meinungsfreiheit wie China, das sein Internet hinter einer Zensurmauer versteckt, bewacht von Hunderttausenden Onlinebütteln. Ähnlich sieht es in Nordkorea, Iran, Bahrain, Vietnam oder Saudi-Arabien aus. Technisch ist das alles kein Problem.
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