Die Aktienmärkte reagieren auf Nachrichten des US-Präsidenten. An den Tweets kommen Finanzexperten nicht vorbei.

Stuttgart - Ein kurzer Blick aufs Smartphone gehört bei Gerhard Wolf dazu. „Ich brauche Nachrichten, ich bin ein Nachrichten-Junkie“, sagt der 46-Jährige lachend. Morgens sucht er als erstes auf dem Smartphone, was nachts gemeldet wurde. Abends werden noch diverse Nachrichten-Apps durchgeschaut. „Ich bleibe immer am Ball – auch an Weihnachten oder im Urlaub.“ Wolf arbeitet als Finanzanalyst. Wie erklärt man seinem Nachbarn diesen Beruf? Die Antwort kommt prompt: „Ich schaue mir Unternehmen an, die am Kapitalmarkt tätig sind und Geld brauchen. Und ich gebe Empfehlungen ab für Investoren, die Geld haben und anlegen wollen“, sagt Wolf. Ein Analyst sei so etwas „wie ein Bindeglied zwischen Unternehmen und Investoren“. Mehr noch: Sie sind auch eine Art Seismograf für Veränderungen. Sie suchen nach Trends, die Kurse und Branchen bewegen, und versuchen, die Auswirkungen auf Gewinn, Umsatz und Kapitalfluss zu antizipieren.

 

Der Betriebswirt arbeitet seit 2007 bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) als Automobilanalyst und ist verantwortlich für eine Gruppe von 15 Unternehmensanalysten. Ein Faible für Zahlen bedarf es dabei schon. Doch das Spannende ist der Blick hinter die Statistik. „Wir versuchen abzuleiten, welche Entscheidung, welche Geschichten und Entwicklungen hinter den Zahlen stecken.“ Längst reicht es nicht mehr aus, Wirtschaftsnachrichten zu verfolgen. Politische Entwicklungen beeinflussen zunehmend die Märkte. „Heute muss man US-Präsident Donald Trump auf Twitter folgen, um zu verstehen, warum die Börsen reagieren.“

Analysten stehen im Wettbewerb mit dem Internet

Im LBBW- Team arbeiten nicht nur Volks- und Betriebswirte, sondern beispielsweise auch ein Wirtschaftsingenieur, ein Informatiker und ein Molekularbiologe.

Die im Zuge der Finanzkrise stetig strenger werdende Regulatorik hat den Beruf in den zurückliegenden Jahren verändert. Unternehmen sind vorsichtiger geworden, wann sie etwas sagen. Auch Banken müssen immer mehr Gesetze, Richtlinien und betriebsinterne Verhaltensregeln beachten. „Die Arbeit ist dadurch komplizierter geworden“, sagt der LBBW-Mann.

Noch etwas hat sich verändert. Früher informierten Analysten über wichtige Ereignisse. Heute stehen Analysten „zunehmend im Wettbewerb mit dem Internet“. Hierüber verbreiten sich Informationen rasend schnell. Hinzu kommt die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. Nachrichtenagenturen, die beispielsweise nach einer Ad-hoc-Meldung Kursbewegungen maschinell auswerten und sofort erste Berichte, vom Computer verfasst, absetzen. Schon heute gibt es so genannte Roboterjournalisten, die automatisch einfache Texte verfassen. Diesen Wettlauf kann der Mensch nicht gewinnen, sagt Wolf: „Deshalb muss ich mir überlegen, wie ich darüber hinaus einen Mehrwert für Investoren generieren kann.“

Wie sich die US-Strafzölle auswirken

So entwickeln LBBW-Analysten beispielsweise Szenarien, wie sich etwa der Brexit oder die US-Strafzölle auf die Industrie auswirken und wie stark dadurch die Gewinne der Hersteller beeinträchtigt werden. Wolf hat als einer der Ersten seiner Zunft bereits Ende März prognostiziert, dass die Gewinne der deutschen Automobilunternehmen um bis zu zehn Prozent sinken könnten, wenn die von Trump geforderten US-Zölle umgesetzt werden.

Die Zahl der Finanzanalysten in Deutschland ist seit 2000 beständig geschrumpft – von etwa 550 auf rund 250 heute, so die Einschätzung von Ralf Frank, Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA). Der steigende Kostendruck und die Industrialisierung der Dienstleistungen sind maßgebliche Gründe dafür. Eine neue Finanzmarkt-Richtlinie, die Anfang des Jahres in Kraft getreten ist (Mifid II), dürfte diesen Trend fortsetzen. Denn Research-Dienstleistungen – das Bereitstellen von Analysen und auch die Vermittlung von Gesprächen zwischen Investoren und dem Herausgeber von Wertpapieren – sind mit Mifid II grundsätzlich kostenpflichtig geworden.

Digitalisierung verändert die Arbeit

Investoren müssen seither für diese Dienstleistungen bezahlen und wählen demzufolge stärker aus, für welche Unternehmen sie weiterhin Research beziehen und von wem. Frank erwartet deshalb, „dass die Zahl der Finanzanalysten weiter schrumpfen wird“. Einige Marktbeobachter gehen sogar davon aus, dass die Zahl um bis zu einem Drittel zurückgehen dürfte. Soweit will Frank nicht gehen. Aber er ist überzeugt, dass Finanzanalysten „unter großem Druck stehen, ihr Angebot weiterentwickeln zu müssen“.

Auch die LBBW reagiert. „Wir fokussieren uns stärker, welche Unternehmen, für welchen Zweck, mit welchem Potenzial unter die Lupe genommen werden.“ Aufgrund dieses Trends könnten es kleinere Aktiengesellschaften oder Anleiheemittenten mittelfristig schwerer haben als die großen Börsenlieblinge. Die Digitalisierung wird die Arbeit weiter verändern. Heute kann der Computer noch keine Szenarien durchdenken. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz wird das gelingen, ist Gerhard Wolf überzeugt, dann werden auch Computer Prognosen abgeben. Aufhalten lasse sich das nicht. „wenn ich nur auf die Weitergabe und Auswertung von Zahlen und Informationen schaue, renne ich gegen eine Maschine an“, sagt Wolf und gibt sich dennoch zuversichtlich. Analysten müssten sich darauf konzentrieren, was sie besser können, als Maschinen.

Die Zeiten werden für Autoanalysten herausfordernd bleiben, ist er überzeugt. Die Frage sei doch, mit welchem Auto fahren wir in Zukunft? Welche Rolle spielen Diesel, Benziner, E-Autos und mit Wasserstoff betriebene Fahrzeuge? Wie schnell kommt die E-Mobilität, wann das autonome Fahren? Vielleicht besitzen künftig nicht mehr alle ein eigenes Auto? „In der Branche steckt so viel Dynamik, das fasziniert mich.“