Die Arbeitsmethode stammt aus der Softwareentwicklung, erobert aber auch andere Branchen. Richtig angewandt, kann sie Eigeninitiative unter den Beschäftigten befördern und Innovationen beschleunigen. Warum Chefs dabei in die Qualifizierung der Mitarbeiter investieren müssen.

Korrespondenten: Barbara Schäder (bsa)

Frankfurt - Im Zuge der Digitalisierung testen immer mehr Firmen eine neue Arbeitskultur. Das zeigt eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom unter mehr als 300 Unternehmen. Die Hälfte von ihnen setze zumindest in der IT-Abteilung auf „agiles“ Projektmanagement, teilte der Verband dieser Zeitung vor Veröffentlichung der Ergebnisse am Freitag mit. Befragt wurden Firmen mit mindestens 500 Mitarbeitern.

 

Das Konzept einer agilen Arbeitsorganisation kommt aus der Software-Branche. Im Mittelpunkt steht die Idee, für die Entwicklung neuer Produkte oder Lösungsmodelle kleine Teams aufzustellen, die ihre Arbeit selbst organisieren. Auf diese Weise können sowohl Probleme als auch Anregungen, die sich erst aus dem Entwicklungsprozess ergeben, schneller aufgegriffen werden als bei einem vorab festgelegten, starren Arbeitsprogramm.

Bei Daimler laufen zahlreiche Pilotprojekte

Die Grundprinzipien der agilen Softwareentwicklung wurden 2011 von einer Gruppe amerikanischer Programmierer und Unternehmensberater in einem Manifest niedergelegt, das auf der Website agilemanifesto.org verfügbar ist. Sie werden auch in anderen Branchen angewandt.

So kündigte Daimler schon 2015 einen Wandel der Unternehmenskultur an. Dafür wurde eine Initiative namens Leadership 2020 ins Leben gerufen, die unter anderem das Konzept der „Schwarmorganisation“ entwickelte. „Wenn eine Lösung für ein konkretes Problem gesucht wird, können die damit befassten Kollegen einen Schwarm bilden und dafür Experten aus verschiedensten Bereichen zusammenziehen“, erläutert ein Sprecher. In entsprechenden Pilotprojekten seien konzernweit derzeit mehr als tausend Mitarbeiter in fünf Ländern tätig. Anders als bei klassischen Arbeitsgruppen gebe es keine Projektleiter, Aufgabenverteilung und Abläufe würden von allen Beteiligten gemeinsam besprochen.

Die IG Metall beobachtet eine „Agilitätswelle“

Daimler ist kein Einzelfall. „Im Moment rollt durch die Unternehmen eine riesige Agilitätswelle“, beobachtet die Gewerkschaftsfunktionärin Vanessa Barth, Leiterin des Bereichs Zielgruppenarbeit und Gleichstellung beim IG Metall-Vorstand. Wenn das Konzept konsequent umgesetzt werde, sei dies zu begrüßen. Aber: „Agil ist auch ein Modewort. Deshalb muss man genau schauen: Ist es Etikettenschwindel, wird es als reine Rationalisierungsstrategie genutzt oder geht es um einen echten Kulturwandel – also darum, besser zu arbeiten?“ Unabdingbar für eine erfolgreiche Einführung agiler Arbeitsprozesse sei eine entsprechende Qualifizierung der Mitarbeiter. „Derzeit laufen zu viele Crash-Kurse“, kritisiert Barth.

Welche Herausforderungen agiles Arbeiten mit sich bringt, schildert eine Mitarbeiterin der Mercedes-Benz-Bank in einem Blogeintrag auf der Website des Unternehmens. Die neue Arbeitsweise erfordere „ein hohes Maß an Selbstorganisation und Eigeninitiative“, schreibt Katharina Diem. Viel Spaß mache aber die „intensive und fokussierte Zusammenarbeit“ in ihrem Team.

Kein Allheilmittel

Die Teamsitzungen, die bei agilen Arbeitsprozessen oft täglich stattfinden, werden von manchen Menschen aber auch als belastend empfunden. Das zeigt eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. In einem der von den Wissenschaftlern untersuchten Unternehmen mussten die Mitarbeiter täglich erklären, welche Aufgaben sie erledigt hatten und welche noch nicht. Viele klagten deshalb über einen ständigen Rechtfertigungsdruck.

Der Coach und Psychologe Stefan Hölscher hat im vergangenen Jahr 40 Interviews mit Personen geführt, die in agilen Arbeitsformen tätig sind. Auch ihm wurden neben positiven Effekten wie der Beschleunigung von Innovationen einige Probleme geschildert. So komme es immer wieder vor, dass sich Führungspersonen mitten im Entwicklungsprozess mit neuen Zielvorgaben einmischten – was den Teams die Arbeit erschwere. Weitere Beispiele sind auf der Website der Unternehmensberatung Metrion Consulting nachzulesen, für die Hölscher arbeitet.

Obwohl er als Coach eigentlich ein Fan der neuen Arbeitsorganisation ist, warnt Hölscher vor einem grundlegenden Missverständnis: „Agilität ist kein Allheilmittel“. Die Methode sei nicht für jeden Arbeitsbereich und auch nicht für jedes Projekt geeignet, sagte Hölscher dieser Zeitung. So wisse er von einem Unternehmen, dass die Vorgaben der neuen Datenschutzgrundverordnung in einem agilen Arbeitsprozess umsetzen wollte: „Das ist krachend gescheitert.“ Sein Merksatz: „Je mehr bürokratische Akuratesse ein Thema in der Umsetzung braucht, desto weniger Sinn hat Agilität.“