Die Versicherungsbranche steht vor umwälzenden Veränderungen. Achim Kassow, Deutschlandchef der Ergo Versicherung, zeigt auf, wohin es führt, wenn Versicherungen immer individueller zugeschnitten werden und wie der Konzern versucht, Zukunftsängste bei den Mitarbeitern abzubauen.

Stuttgart - Die Versicherungsbranche steht vor umwälzenden Veränderungen. Achim Kassow, Deutschlandchef der Ergo Versicherung, zeigt auf, wohin es führt, wenn Versicherungen immer individueller zugeschnitten werden.

 
Herr Kassow, hat der Beruf des Versicherungskaufmanns noch eine Zukunft, oder verkaufen uns in wenigen Jahren nur noch Roboter Versicherungen?
Klar hat der Beruf Zukunft, aber die Arbeitswelt ändert sich. Für unsere Branche heißt das: Klassische, sich wiederholende Verwaltungstätigkeiten werden durch Digitalisierung und Automatisierung unter Druck kommen. Umgekehrt werden die Anforderungen im direkten Kundenkontakt, in den Agenturen und am Telefon zunehmen. Die Kunden werden sich immer öfter erst im Internet informieren und dann besser vorbereitet auf ihren Versicherer zugehen.
Wie viele Arbeitsplätze wird die Digitalisierung in der Branche, aber auch bei Ergo vernichten?
Ich halte es nicht für seriös, hier eine Zahl zu nennen. Was mit den Arbeitsplätzen passiert, hängt maßgeblich von der Geschwindigkeit ab, in der neue Technologien von Kunden und vom Markt angenommen werden. Klar ist: Die Zahl der Tätigkeiten in Routinebereichen wird abnehmen. Das schafft Platz für neue Aufgaben. Wie sich das unterm Strich auf die Zahl der Arbeitsplätze auswirkt, ist nicht zuletzt auch eine Frage des Wachstums.
Für Mitarbeiter ist das aber eine schwierige Situation.
Wir verhandeln derzeit mit den Betriebsräten und der Gewerkschaft über eine Vereinbarung, die wir sozialen Ordnungsrahmen nennen: Dort haben wir für die nächsten drei Jahre unter anderem weitgehende Standort- und Arbeitsplatzgarantien angeboten – und dies gilt natürlich auch hier für Baden-Württemberg mit unseren sieben Regionaldirektionen. Wir möchten auf jeden Fall sicherstellen, dass keine Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, weil sie sich Sorgen über ihre berufliche Perspektive machen. Wir wollen vielmehr ein klares Signal in unsere Mannschaft senden: Leute, wir brauchen euch.

Die elektronische Gesundheitsakte

Kunden zeigen sich digitalen Angeboten gegenüber offen. Kommen deshalb immer mehr Krankenversicherer mit einer digitalen Patientenakte auf den Markt?
Die Digitalisierung bringt die zusammen, die zusammengehören. Ich meine Leistungserbringer wie Ärzte, Kunden und Versicherungen. Diese Möglichkeiten wollen wir mit unserer elektronischen Gesundheitsakte ausschöpfen und unseren Kunden, die privat oder eben zusatzversichert sind, zur Verfügung stellen.
Mit welchen Partnern arbeiten Sie zusammen?
Unser Krankenversicherer, die DKV, kooperiert mit einer ganzen Reihe von gesetzlichen Krankenkassen. Bei der elektronischen Gesundheitsakte haben wir uns für eine Lösung gemeinsam mit IBM entschieden. Auch die Techniker Krankenkasse nutzt dieses System.
Etwas konkreter bitte.
Impfempfehlungen und Vorsorgeempfehlungen, die Verwaltung von Notfalldaten und die Analyse von Medikationsplänen zählen zu den Diensten, die als Erstes geplant sind.
Das ist der fürsorgliche Ansatz. Es gibt aber auch noch einen anderen: Wenn die Vernetzung zunimmt und mein Smart Home meldet, dass ich zu wenig schlafe und zu viel Süßes esse, was folgt daraus? Verteuert sich meine Versicherung?
Wir halten nichts von verhaltensbezogenen Prämien in der Krankenversicherung. Wir haben mit der Beitragsrückerstattung ein wirksames Instrument, das denjenigen finanzielle Vorteile bringt, die Leistungen in der Vollversicherung nicht in Anspruch nehmen.

Die Grundidee einer Versicherung

Für einige wird es teurer und für andere wird es billiger?
In der Krankenversicherung über den eben beschriebenen Mechanismus. Aber Sie kennen die feinen Tarifdifferenzierungen auch heute schon etwa aus der Praxis in der Kfz-Versicherung.
Wo ist die rote Linie, über die Sie nicht gehen würden?
Es gibt eine ganz natürliche Grenze: Die Grundidee einer Versicherung ist, dass man ein Risiko im Kollektiv trägt. Dieser Risikoausgleichsgedanke steht einer vollständigen Individualisierung entgegen.
Das heißt, wir laufen jetzt in eine Situation hinein, in der Versicherungen immer individueller werden?
Der Trend geht zur Maßschneiderei. Neue Daten und neue Auswertungsmöglichkeiten führen zu immer differenzierteren Angeboten.
Wenn es so auseinanderläuft: Ist das für Sie als Versicherer von Vorteil?
Das kommt auf die konkrete Situation an. Nehmen Sie die Kfz-Versicherung. Hier ist es zu immer weiteren Ausdifferenzierungen gekommen: PS, Lebensalter, Familiensituation, Garagenparker und so etwas. Der Wettbewerb in diesem Markt ist extrem, also sucht jedes einzelne Unternehmen nach profitablen Teilsegmenten. Da kann Differenzierung für den einzelnen Anbieter attraktiv sein, der Gesamtmarkt bleibt aber unter Druck.

Das junge Angebot

Zurück zur Patientenakte: Wer haftet, wenn Daten gehackt worden sind?
Verantwortlich dafür, dass die Daten in der Cloud gespeichert werden, ist IBM. Sie arbeiten mit einem anerkannten Verschlüsselungsverfahren. Die entsprechenden IBM-Server stehen auf deutschem Boden.
Ab wann steht die elektronische Patientenakte Ihren Kunden zur Verfügung?
Vorgesehen ist das für Ende des Jahres.
Sie haben auch einen rein digitalen Versicherer namens Nexible, der bis jetzt Kfz-Versicherungen nur online verkauft. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Wir haben eine ganz normale Kundenstruktur – nicht nur die jungen, technikaffinen. Längst nicht alle sind nur auf einen Preisvorteil aus, viele finden es einfach bequemer. Das Geschäft läuft prima.
Funktioniert die Schadenabwicklung bei dem digitalen Versicherer gut?
Einwandfrei. Da es ein junges Angebot ist, haben wir bisher noch nicht so viele Schadenfälle. Aber es ist unser Anspruch, die Schadenabwicklung genauso einfach, bequem und entspannt zu gestalten wie den Abschluss der Versicherung.
Wie reagieren Ihre menschlichen Versicherungsvermittler?
Am Anfang gab es Fragen, aber das hat sich gelegt. Wir trennen genau zwischen dem Ergo-Rundum-Paket und dem reinen Online-Angebot Nexible, das unter einer anderen Marke auftritt und für uns auch ein Experimentierfeld ist.
Erschließen Sie mit Nexible neue Kundengruppen?
Ja, Nexible ist ein rein digitaler Versicherer, der sich an rein digital agierende Kunden wendet. Kannibalisierungseffekte sehen wir bisher nicht.