Dilara aus Tübingen Flüchtlingskind als Radiomoderatorin

Dilara hat in ihrem Leben mehr erlebt als die meisten Gleichaltrigen. Foto: Teona Mskhvilidze

Nach ihrer Flucht aus Kurdistan startet eine Elfjährige mit ihrer eigenen Radiosendung. Dilara wirdzum Vorbild und zur virtuellen Freundin vieler deutscher und ausländischer Kinder.

Tübingen - Dilara sitzt in der Abstellkammer ihrer Dachgeschosswohnung zwischen Stöckelschuhen und Plastikboxen auf einem Florteppich. Vor ihr steht ein riesiges Barbiehaus. Sie streichelt über das Haar ihrer Puppen. „Manchmal gibt es ein Gewinnspiel in meiner Radiosendung, da schicke ich den Kindern Spielzeug oder Fanartikel nach Rojava.“ Behutsam setzt sie die blonde Puppe in ein Spielzeugauto: „Aber ich verrate dir ein Geheimnis“, sie lehnt sich nach vorne, hält eine Hand vor den Mund und flüstert: „Ich schicke den Kindern auch Geschenke, wenn sie gar nicht gewonnen haben.“

 

Zwei Stunden später, um 14 Uhr, sitzt die Elfjährige als Moderatorin im Tonstudio mit Kopfhörern so groß, dass sie fast ihr halbes Gesicht bedecken. Seit Mai vergangenen Jahres hat Dilara ihre eigene Sendezeit bei Radio Wüste Welle, einem freien Bürgerradio in Tübingen. Jeden Mittwoch spricht Dilara eine halbe Stunde lang in ihrer Sendung „Mit Dilara“ über das, was ihr so durch den Kopf geht. Sie ist die jüngste Moderatorin des Senders, doch mithalten mit den Großen kann sie trotzdem. Ihr Deutsch ist nahezu perfekt, dabei sind sie und ihre Mutter erst vor drei Jahren aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet geflohen.

Ihre Sendung richtet sich in erster Linie an Kinder. Sie spricht über Schulprobleme, Sport, Musik. Doch nicht nur zu banalen Themen äußert sie sich, auch zur Invasion der Türkei in Rojava und den schlechten Lebensumständen vieler Kurden hat Dilara ihre Meinung.

Auf ihrem T-Shirt steht „Girl Power“

Dilara sitzt auf einem kleinen Hocker im Tonstudio, vor ihrem Mund ein großes Mikrofon. Letzte Vorbereitungen werden getroffen. Hala Almohammed, ihre Mutter, zupft das lange schwarze Haar der Tochter zurecht und redet ihr auf Kurdisch zu. „Girl Power“ prangt in Neonbuchstaben auf ihrem T-Shirt. Im Hintergrund dudelt die Playlist der „100 besten deutschen Kinderlieder“. Ein Licht an der Wand blitzt rot auf. Sendezeit. „Hallo meine lieben Freunde, heute reden wir über ein ganz wichtiges Thema“ ruft Dilara ins Mikro, „und zwar über Aufschieben. Wer kennt das nicht? Man muss seine Hausaufgaben erledigen, aber stattdessen schiebt und schiebt man das vor sich hin.“

Ihre Mutter steht ihr gegenüber, lächelt und streckt beide Daumen nach oben. „Ich habe zwar keine Lösung für euch, aber einen Tipp: Oft hat man Angst, dass etwas nicht klappt oder man etwas falsch macht. Ihr müsst euch einfach trauen! Sonst verschiebt man am Ende sein ganzes Leben!“

Zu Beginn war es nicht Dilara, die hinter dem Mikro stand, sondern ihre Mutter, die bei dem Sender ein Praktikum machte. Doch Dilara ist kein Kind, das stumm hinter Glasscheiben wartet. Sie wollte selbst moderieren und ihre Geschichten mit anderen teilen. Der Projektleiter von Wüste Welle, Matthias Xander, gab der damals Zehnjährigen eine Chance, sich zu beweisen. Kinder aus Deutschland, Kurdistan und der ganzen Welt schalten seitdem ein. Manche rufen sogar bei Wüste Welle an oder schicken Leserbriefe.

Sie nutzt viele Medien

Nicht nur im Radio, auch auf Demonstrationen, bei Facebook und Youtube ist Dilara aktiv. In einer ihrer Videos berichtet sie auf Deutsch und in Kurdisch über Rojava.

Dilara Almohammed – die Greta Thunberg der Integration? Eine Elfjährige, die über Tod und Verlust spricht. Ein Kind, das versucht, den Krieg zu verstehen. In Flammen stehende Kornfelder werden auf ihren Clips eingeblendet. Bauschutt liegt wie eine Decke auf den Straßen Rojavas. Zertrümmerte Häuser säumen den Straßenrand, die Luft dick von Rauch und Aschepartikeln. „Ich sehe sie immer wieder in den Augen der Kinder, die in Deutschland ankommen“ sagt Dilara und senkt dabei ihre Stimme – „diese unglaubliche Traurigkeit.“

Mühe ist wichtig, sonst schafft man im Leben gar nichts, findet Dilara und justiert ihr Mikro. Im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen wirkt sie fast ein wenig altklug. Doch sie hat mehr als die meisten Gleichaltrigen hier erlebt. Sie musste schneller erwachsen werden.

„Ich vermisse mein Land.“ Dilara wird still. Sie ist jetzt wieder zuhause in der Küche. „Eigentlich vermisse ich alles. Meine Freunde, mein Haus, meine Schule. Wo ich gewohnt habe, da ist immer Sommer.“ Das Gefühl, nicht dazuzugehören ist für Dilara nicht neu. Sie kommt aus einem Land, in dem es Kurden verboten ist, die eigene Sprache zu sprechen.

Das Leben im Flüchtlingslager

Dilara und ihre Mutter sind in der Stadt Darbasiya an der syrisch-türkischen Grenze aufgewachsen. Hala Almohammed erinnert sich an die Marienkirche neben ihrem Haus, an die bunten Obststände und die Kurden, Araber, Assyrer, die trotz ihrer Verschiedenheiten miteinander in dem Dorf leben.

Um Arabistik zu studieren, geht Hala Almohammed nach Damaskus. Als vor neun Jahren der Bürgerkrieg in Syrien ausbricht, fliehen die Menschen in die Türkei und den Libanon. Viele von ihnen kommen in Flüchtlingslagern und leben dort auf engstem Raum. Auch Hala Almohammed und ihre kleine Tochter Dilara finden zunächst in einer Behelfsunterkunft kurz hinter der Grenze der Türkei Unterschlupf.

In Mersin lernt Dilara neben Arabisch, Englisch und Kurdisch fließend Türkisch. Drei Jahre lang wohnen sie direkt am Meer, wachen morgens vom Rauschen der Wellen auf. „Bergtürken“ nennt man abfällig alle, die Zuflucht suchen. An einem kalten Novembertag fasst Hala Almohammed den Entschluss, nach Deutschland zu fliehen.

Zwei Wochen sind sie insgesamt unterwegs – auf Plastikbooten, in Zügen, zu Fuß. 3000 Kilometer. Ohne ihre Tochter, sagt sie heute, hätten sie es nicht geschafft: „Im Boot habe ich zu weinen angefangen, draußen war es finster. Ich hatte Angst. Aber Dilara hat meine Hand genommen, mich gedrückt und gesagt: ,Alles wird gut Mama. Du darfst nicht traurig sein, sei stark!“

Sie leidet unter Langeweile

Dilara und ihre Mutter erreichen Deutschland im Winter 2015, wechseln von einer Containerunterkunft in die nächste, schlafen in überfüllten Hallen, bis sie schließlich in einem Flüchtlingsheim in Unterhausen bei Reutlingen landen. „Am Anfang habe ich mich nicht wohlgefühlt“, erinnert sich Dilara, „es war immer so unglaublich kalt.“ Mehr als ein Jahr lang darf sie nicht zur Schule gehen. „Die Langeweile hat mich verrückt gemacht, dort gab es nicht mal Internet.“

Heute wohnen Dilara und ihre Mutter in einer einfachen, liebevoll eingerichteten Wohnung in Reutlingen. Im Fernsehen laufen kurdische Musikvideos. Schnittblumen stehen auf dem winzigen Esstisch. Hala Almohammed steht in der Küche und rollt mit ihren Fingern Reis in die eingelegten Weinblätter. Es duftet nach Minze und Schwarztee. Mutter und Tochter schlafen auf einer Matratze auf dem Boden.

Ihre Bekanntheit im Internet verdankt Dilara auch einem ihrer Facebook-Videos: „Mister Trump, Mister Erdogan, please stop the war!“ ruft sie bei einer Demonstration in die Menge. Der Clip wird 70 000 Mal weltweit geteilt, überwiegend von der syrischen und kurdischen Gemeinde. Innerhalb kürzester Zeit folgen dem Mädchen knapp 10 000 Leute auf Facebook, die Einladungen von ägyptischen, kurdischen und arabischen Fernsehsendern überschlagen sich.

Es gibt auch Kritiker

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Dilara noch ein Kind ist. Und Kinder sind sich den Konsequenzen ihrer Handlungen nicht immer bewusst. Ihr Engagement stößt auch auf Kritik. Vergangenes Jahr wurde Hala Almohammed zu einer Krisensitzung in ihrer Schule einberufen: Die Leitung machte sich Sorgen um das Mädchen. Das Kind sei zu aktiv in den sozialen Medien, hieß es. Und auch die Auftritte bei kurdischen Demonstrationen sehe man kritisch.

„Diese Kinder haben ihre Familie und Freunde sterben sehen. Wie kann man von einem Kind erwarten, unpolitisch zu sein, wenn Krieg Teil der eigenen Biografie ist?“ kontert daraufhin Bayram Ceran, Mitarbeiter der Bruderhausdiakonie und enger Vertrauter der Familie, der Hala Almohammed damals als Unterstützer und Übersetzer zu dem Treffen begleitet. Die Schulleitung verstummt. Keiner weiß darauf eine Antwort.

Dilaras Klassenlehrerin möchte nicht, dass die Schulnoten unter ihrem Engagement leiden. Bisher hat das Argument wenig Schlagkraft: Dilaras Noten sind durchgehend gut, die Realschülerin darf sogar die fünfte Klasse überspringen. Doch die Sorgen sind nicht unberechtigt. Manchmal wirkt das Mädchen müde im Unterricht, manchmal überdreht. Ein normales Verhalten Frühpubertierender? Nicht alle Kinder, die bereits in jungen Jahren im Rampenlicht stehen, können mit Druck, Erfolg und Kritik umgehen.

Der Mitarbeiter des Stadtjugendrings, Lutz Adam, der Hala Almohammed an den Radiosender vermittelt hat, ist der Meinung: „Hinter jeder starken Tochter steht eine starke Mutter.“ Dilaras Mutter ist eine zierliche Frau mit fein nachgezogenen Augenbrauen und ruhiger Ausstrahlung. Sie weiß genau, was sie für sich und ihr Kind will: eine bessere Zukunft. Dilara soll in Deutschland nicht übersehen, sondern gehört werden. Hala Almohammed ist Dilaras Mutter, beste Freundin und Managerin in einem. Grenzen zu ziehen, ist dabei nicht immer leicht.

Die Angst der Mutter

Dilaras Social Media Accounts befinden sich auf Halas Almohammeds Handy, Inhalte und Kommentare werden streng kontrolliert. Fiese oder bedrohliche Beiträge und Nachrichten, wie „Du kannst gar nicht richtig Kurdisch sprechen“ oder „Dein Deutsch ist schlecht“ werden sofort gelöscht. Zu groß ist die Angst der Mutter, die Sache könnte sich verselbstständigen oder ihr Kind zu Schaden kommen. Dilara soll nicht ins politische Kreuzfeuer geraten.

„Ein paar Leute aus der Schule machen sich manchmal über mich lustig, das tut schon weh“, sagt Dilara und fährt mit ihren Fingern über den flauschigen Florteppich. „Aber ich denke mir dann einfach: Mir egal. Mein Leben!“

Im kommenden Jahr stehen große Projekte an: Der Stadtjugendring in Reutlingen plant einen Werbefilm über Rassismus und Diskriminierung mit Dilara in der Hauptrolle. Ein Freund der Mutter will einen Spielfilm über den Krieg in Syrien drehen mit Dilara als Protagonistin. Der Trailer ist bereits abgewickelt, nur Sponsoren fehlen noch. Dilaras Herzenswunsch: ein Kinderprogramm im deutschen Fernsehen mit ihr als Moderatorin: „Ich mache das aber nicht, weil ich berühmt werden will“, sagt sie. „Ich mache das nur für die Kinder.“

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