Die Mieter der Stuttgarter „Diplomatensiedlung“ gehen auf die Barrikaden: Ein radioaktives Gas, das Krebs verursachen soll, übersteigt die Grenzwerte deutlich. Aber der Vermieter – der Bund – reagiert nicht. Das liegt vielleicht auch daran, dass die berühmte Siedlung verkauft werden soll.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Am Killesberg, in der denkmalgeschützten „Diplomatensiedlung“ am Albrecht-Dürer-Weg, ist ein heftiger Streit zwischen den Mietern der zwölf Gebäude und dem Bund als Eigentümer entstanden. Auslöser ist Radon, ein natürlich vorkommendes radioaktives Edelgas, das in der Bevölkerung weitgehend unbekannt ist – aber in höherer Konzentration sogar Lungenkrebs auslösen kann. Die Werte liegen in den Kellern bei bis zu 2300 Becquerel pro Kubikmeter, in Wohnzimmern wurden bis zu 448 Bq/m³ gemessen. Ab 200 hält die Strahlenschutzkommission eine Sanierung von Wohnräumen für sinnvoll.

 

Gernot Stollhoff, einer der Mieter am Killesberg, wirft der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) vor, die Sanierung zu verschleppen. Seit 20 Monaten wisse man mindestens von der hohen Belastung, doch „wir laufen bei der Bima gegen eine Wand“. Er habe privat in seinem Keller sogar 3000 Bq direkt über dem Fels gemessen. Auch eine Einliegerwohnung im Untergeschoss sei stark belastet gewesen; sie sei seit Bekanntwerden der Werte geräumt. Und in den am stärksten betroffenen Häusern leben laut Stollhoff sechs Kinder. Wie man hört, ist eine Person in der Siedlung an Lungenkrebs erkrankt. Daneben kritisieren die Mieter, dass die Bausubstanz schlecht sei, die Heizung erhebliche Mängel habe und die Bima sich nicht um den Denkmalschutz kümmere.

Die wenigsten Mieter wollen weg

Da der Bund die Gebäude jetzt verkaufen will , intensivieren die Mieter ihre Anstrengungen. Denn der Verkauf könnte dazu führen, dass sie ausziehen müssten – jedoch frühestens in drei Jahren, da das Mietverhältnis so lange geschützt ist. Nur wenige wollen aber weg, was vielleicht auf die vorzügliche Wohnlage und die niedrige Miete zurückzuführen ist, die angeblich unter acht Euro pro Quadratmeter liegt. Mit Plakaten in der Siedlung weisen die Mieter Interessenten auf den Mieterschutz und die Radonbelastung hin – Ersteres steht nicht im Exposé der Bima, Zweiteres schon. Bei Privatleuten, die selbst in einem Bungalow wohnen wollen, könnte der Umstand das Interesse senken.

Claus-Peter Rehwald vom Stuttgarter Büro der Bima kann sich über eine mangelnde Nachfrage trotzdem nicht beklagen: „Die Resonanz ist sehr groß“, sagt er. Die Kritik der Mieter weist er zurück. Nachdem das Stuttgarter Amt für Umweltschutz die Werte im November 2011 gemessen und der Bima mitgeteilt habe, sei seine Anstalt im Frühjahr 2012 aktiv geworden und habe 100 Tage lang Geräte aufgestellt: „Das ist zeitnah und in Ordnung so“, sagt Rehwald. Da es keine verbindlichen Grenzwerte gebe, könnten die Bewohner nicht einmal eine Mietkürzung geltend machen.

Eigentümer hat Langzeitmessung begonnen

Die Ergebnisse seien jedoch nicht eindeutig gewesen, so dass die Bima vor wenigen Tagen mit einer Langzeitmessung über ein Jahr in allen zwölf Häusern begonnen hat. Den Mietern dauert das viel zu lange: „Wir kennen die Belastung längst, jetzt muss gehandelt werden“, sagt Stollhoff.

Das Amt für Umweltschutz sieht das aber nicht so. In Absprache mit dem Gesundheitsamt habe man im Jahr 2011 keinen Grund für akute Maßnahmen gesehen, sagt Amtsleiter Werner Flad. Das Amt sieht 400 Becquerel noch als unkritisch an; diese Einschätzung teilt das Bundesumweltministerium nicht mehr. Das Problem sei in der Siedlung auch deshalb so hoch, sagt Flad, weil die Gebäude mit Stollen verbunden seien und das Radon besser ausdünsten könne.

Mieter greifen zur Selbsthilfe

Claus-Peter Rehwald gibt grundsätzlich zu bedenken: „Das Thema endet nicht an der Grundstücksgrenze der Diplomatensiedlung.“ Tatsächlich hat das Amt für Umweltschutz Ende der 1990er Jahre an 40 Punkten im Stadtgebiet den Radongehalt im Boden untersucht, auch am Killesberg – stadtweit lagen sechs Werte bei mehr als 100 Bq/m³. Auch Gernot Stollhoff sieht die Belastung als „nicht lebensgefährlich“ an; als Physiker hat er aber ausgerechnet, dass sie statistisch die Lebenserwartung um drei Monate verringere. Ihn ärgert, dass die Belastung seit Langem vermeidbar gewesen wäre.

Er hat nun selbst Abhilfe geschaffen und Löcher in die Kellerwände gebohrt. Mithilfe einer Toilettenlüftung wird die belastete Luft aktiv nach draußen befördert.

Die wichtigsten Antworten zu Radon

Was ist Radon?
Es handelt sich um ein radioaktives Edelgas, das in natürlicher Form in manchen Böden vorkommt. Es entsteht beim Zerfall von Radium. Werte über 100 Becquerel pro Kubikmeter kommen verstärkt zum Beispiel im bayrischen Voralpenland, im Harz oder im Erzgebirge vor.

Wie gefährlich ist es?
Laut Bundesumweltministerium (BUM) sind 30 Prozent der Strahlenexposition der Bevölkerung auf Radon zurückzuführen. Die Weltgesundheitsorganisation(WHO) schätzt, dass sieben Prozent der Erkrankungen an Lungenkrebs eine Radonbelastung als Ursache haben. Gesetzliche Grenzwerte gibt es nicht.Die EU hat lange empfohlen, Wohnräume ab 400 Bq/m³ zu sanieren. Dies gilt als überholt. Die deutsche Strahlenschutzkommission schrieb 2005, dass die Lungenkrebsgefahr schon bei 100 bis 200 Bq/m³ erhöht sei. BUM und WHO empfehlen deshalb nun einen Zielwert von 100 Bq/m³. In vielen Staaten gilt ein Richtwert von 200 Bq/m³.

Was ist in Stuttgart?
Der höchste direkt im Boden gemessene Wert liegt in Stuttgart bei 257 Bq/m³ am Killesberg, gefolgt von 247 Bq/m³ in Botnang. Bei sechs von 40 Messungen lag der Wert über 100 Bq/m³. Die Ergebnisse in der „Diplomatensiedlung“ stammen aus einer anderen Messung und wurden innerhalb der Räume ermittelt.

Was kann man tun?
Wichtig ist, dass sich das Radon in Gebäuden nicht über längere Zeit ansammeln und damit konzentrieren kann. Dies kann teils durch recht einfache Maßnahmen, wie häufiges Lüften, verhindert werden. Weiter sollten im Keller alle Risse und Fugen verschlossen werden, durch die Gas aus dem Boden strömen kann.