An diesem Samstag jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Auch die Stuttgarter Kickers und der VfB Stuttgart profitierten von der Wende – mit drei besonderen ostdeutschen Typen. Wir erzählen, wie sie zurecht kamen.

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart - Die Mauer ist schon fast sieben Jahre gefallen, als Silvio Meißner die Ossi-Vorurteile in einem Satz zu hören bekommt. Es ist das Frühjahr 1996. Meißner, gebürtiger Hallenser und späterer Profi des VfB Stuttgart, spielt in der zweiten Liga mit dem Chemnitzer FC bei seinem nächsten Arbeitgeber Arminia Bielefeld vor. Der Wechsel ist eingetütet, am Tag nach dem Spiel auf der Bielefelder Alm will Meißner seine neue Wohnung in Ostwestfalen angucken und sich bei den neuen Kollegen der Arminia in der Kabine vorstellen.

 

Silvio Meißner trifft – gegen den VfB

Dann schießt Meißner ein Tor. Für Chemnitz. Gegen seinen künftigen Club, der um den Aufstieg in die erste Liga spielt. Zu viel für die Legende im Bielefelder Tor.

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Uli Stein begrüßt Meißner am Morgen danach so in der Kabine: „Spinnst du, du blöder Ossi, du schießt ein Tor gegen uns – wir wollen doch aufsteigen, und du willst doch nächstes Jahr erste Liga spielen.“ Es ist kein Fußballerflachs des Platzhirschs Stein. Es ist bitterer Ernst. Und Silvio Meißner denkt sich: Boah ey, wo bin ich denn hier gelandet?

„Uli hat gesehen, dass ich mir den Arsch aufreiße“

Heute, genau 30 Jahre nach dem Mauerfall, kann Meißner über die Geschichte lachen. Auch, weil Stein sich nach den ersten gemeinsamen Trainingseinheiten in Bielefeld im Sommer 1996 bei ihm entschuldigt hat. „Uli hat gesehen, dass ich mir den Arsch aufreiße“, sagt Meißner. Also sagte Stein zu ihm: „So wie du dich hier reinhängst, voller Herz und Leidenschaft – sorry für die Sache damals. Aber du musst es verstehen. Ich wollte halt aufsteigen und war sauer.“ Aufgestiegen sind die Bielefelder ja auch trotz des Tores von Meißner.

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Der hat den Wortlaut der Entschuldigung noch heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, im Kopf. Weil sie für ihn damals Mauern einriss. Weil sie für ihn die Wende im Westen bedeutete. Und weil sie aus heutiger Sicht ein Musterbeispiel gelungener Integration darstellt. Meißner feierte, wenn man so will, nach der Entschuldigung Steins Wiedervereinigung. Er hatte sich den Respekt im Westen erarbeitet. Weil er Leistung brachte.

Es galt noch nach der Wende Mauern einzureißen

Meißner blieb nichts anderes übrig. Er war keiner der Oststars wie Matthias Sammer, Ulf Kirsten oder Andreas Thom, denen qua ihrer Ausnahmequalitäten ein paar Jahre vorher alle Tore offen standen. Bei Meißner war das anders. Er musste noch sieben Jahre nach der Wende Mauern einreißen. Er musste sich drüben im Westen erst einen Namen machen, sich integrieren, wie jeder andere Arbeitnehmer auch. Meißner, das war 08/15. Er war nur der nächste Kicker von drüben. Eine Nummer, die zumindest am Anfang austauschbar war.

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Ebenso wie Dirk Wüllbier oder Stefan Minkwitz. Auch die beiden ehemaligen Profis der Stuttgarter Kickers kamen ein paar Jahre nach dem Mauerfall in den Westen. Und auch sie mussten die neuen Kollegen erst von sich überzeugen. Und auch sie schafften es.

Warum das so war? Weil sie gut kicken konnten – und weil der Fußball es ihnen leicht machte. Das betonen alle drei, Meißner (heute 46 Jahre alt), Wüllbier (53) und auch Minkwitz (51).

Wüllbier kommt zu den Blauen

Wüllbier wechselte 1992 vom Halleschen FC zu den Kickers, er blieb bis zum Karriereende als Profi und arbeitet noch heute in der Region, unter anderem in einer Fußballschule. Ebenso wie seine Frau, die zunächst als Zahnarzthelferin arbeitete und heute als Orthopädin am Killesberg angestellt ist. Ihre Akklimatisierung verlief weniger reibungslos. „Sie hat anfangs im Job öfter mal gehört, ohne jede Begründung, dass sie als Ostdeutsche doch eh keine Ahnung habe“, sagt Wüllbier. Und als daheim mal die Heizung kaputt war, da fällte der Klempner schnell sein Vorurteil: „Ihr habt keine Ahnung, wie man entlüftet, ihr seid doch Ossis.“

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Auf dem Fußballplatz und in der Kabine liefen die Dinge anders. „Fußballer haben ihren eigenen Humor“, sagt Wüllbier, „egal, woher du kommst.“ So mancher neue Teamkollege dachte zwar beim Anblick von Wüllbiers Vokuhila-Mähne, dass er die bessere Frisur hatte, das aber war für den neuen Ossi zu verschmerzen. „Da haben sich alle über mich kaputtgelacht, das gehört dazu, da war Stimmung in der Bude“, sagt Wüllbier.

„Entweder Du bist der Depp...“

Für eine gute Atmosphäre in der neuen sportlichen Heimat zu sorgen, offen zu sein zu den Kollegen, das sei neben den fußballerischen Qualitäten das Wichtigste gewesen. Sagt Wüllbier – und sagen auch Meißner und Minkwitz, der 1992 vom 1. FC Magdeburg zum MSV Duisburg wechselte und später neun Jahre als Profi und vier Jahre als Trainer bei den Stuttgarter Kickers tätig war.

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„Entweder du bist ein Depp, oder du bist es nicht, und entweder kannst du kicken oder nicht, da ist es egal, aus welchem Land du kommst“, so drückt es Minkwitz aus, der heute in Leonberg lebt und in der Fußballschule von Ex-Trainerkollege Günter Rommel arbeitet. Und Silvio Meißner ergänzt: „Jeder ist für seine Integration selbst verantwortlich – man muss Leistung bringen und offen sein für Neues.“

Quälix? Nix Neues für Meißner

Was Wüllbier, Minkwitz und Meißner in ihren Anfangsjahren im Westen allerdings noch nicht wahrnahmen: Auch sie eröffneten ihren Clubs neue Horizonte – dank der speziellen Ausbildung, die sie im Osten erlangt hatten. Die Kickers profitierten bei Wüllbier und Minkwitz von der DDR-Schule, so wie der VfB bei Meißner, der 2000 aus Bielefeld kam und sieben Jahre blieb.

Der VfB bekam einen Mittelfeldmann, dem kein Meter zu weit war. „Ich habe in der DDR das Laufen gelernt“, sagt Meißner: „Wir mussten uns überwinden, es war harter Drill – da konnten mich dann die Methoden von Felix Magath als VfB-Trainer nicht schocken.“ Wo die anderen auf dem Boden lagen, bekam Meißner die zweite Luft bei den gefürchteten Konditionseinheiten unter Magath in der Zeit von 2001 bis 2004.

Top ausgebildete Fußballer aus dem Osten

Zähe Burschen waren die Kicker aus dem Osten – und meist waren sie top ausgebildet. „Wir mussten die technischen Übungen in der DDR wiederholen bis zum Erbrechen“, erinnert sich Dirk Wüllbier: „Rechter Fuß, linker Fuß, jeweils 50-mal jonglieren, dann den Ball mit beiden Füßen 100-mal an die Wand, dazu Kopfballübungen ohne Ende – die Ausbildung war top.“ Ebenso wie die Verzahnung von Fußball und Schule, wie Stefan Minkwitz betont: „Das war alles ideal aufeinander abgestimmt – und wird so oder so ähnlich ja heute teils von den meisten Profivereinen in Deutschland umgesetzt.“