Es gibt mehr Gedenkstätten an das NS-Regime als an die deutschen Freiheitsbewegungen. Die Frage ist nun, welche Erinnerung schützt die Demokratie besser vor den Angriffen ihrer Feinde.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Die Zahlen stimmen nicht gerade optimistisch. 25 Breakdowns, also Zusammenbrüche, demokratischer Systeme hat der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Daimond seit Beginn des Jahrtausends gezählt. Es ist also durchaus von Bedeutung, wenn man fragt: Wofür lohnt es sich, auf die Straße zu gehen? Wie bewahre ich Haltung? Wie viel Willkür kann ich ertragen und wie sehr passe ich mich an? Unweigerlich überprüft man das eigene politische Koordinatensystem, wenn es darum geht: Was gehen mich die anderen an, wofür setze ich mein Leben ein? Die Fragen, mit denen ein Geschichtsparcours im zukünftigen Lernort Kislau die Besucher konfrontiert, zielen auf das Wesen der Demokratie. Das Projekt für Zivilcourage und Widerstand ist zwar noch in der Planungsphase und wird frühestens 2022 fertig. Aber wenn man der Projektleiterin Andrea Hoffend zuhört, dürfte eines klar sein: Der Lernort, der zwischen Heidelberg und Bruchsal angesiedelt sein wird, soll eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen. Im badischen Kislau lag eines der frühen Konzentrationslager der Nationalsozialisten, wo sie politische Gegner von April 1933 an gefangen hielten, demütigten und quälten.

 

Jugendliche wissen nicht, was Diktatur bedeutet

Kislau blickt auf die deutsche Geschichte, bekommt aber angesichts der weltweit bedrängten Demokratien noch eine viel allgemeingültigere Bedeutung. Kislau will Jugendliche ansprechen, die inzwischen nicht mehr zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden könnten, sagt die promovierte Historikerin Hoffend.

Im Mittelpunkt der Arbeit in Kislau stehen die Menschenrechte. Auch wenn noch nicht klar ist, wo der Lernort räumlich angesiedelt sein wird, umweht ihn die räumliche Nähe zum Schloss mit einem Hauch von Authentizität. Nicht nur, wie viel Authentizität ein Ort der Erinnerung braucht, um seine Wirkung zu entfalten, beschäftigt die in der Gedenkarbeit Tätigen. Über allem steht mehr oder wenig deutlich die Frage: Sind die mehr als 80 Gedenkstätten, die es in Baden-Württemberg gibt, Bollwerke gegen demokratiefeindliche Bestrebungen?

Das bei Ulm gelegene älteste Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (DZOK) gehört ebenso dazu wie die Rastätter Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte oder die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. Die Mehrzahl nimmt Bezug auf die NS-Gräuel. Acht sind Demokratieerinnerungsorte, ein DDR-Museum gibt es zudem in Pforzheim. Warum wird die Geschichte der Weimarer Republik so sehr als Vorgeschichte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates erzählt? Warum bezieht sich eine Gesellschaft wie die bundesdeutsche nicht auch auf ihre hellen Erinnerungen, wie es unter Historikern inzwischen heißt, sondern mehrheitlich noch immer auf die dunklen Erinnerungen?

Kommerzialisierung schadet

„Die Umbrüche, vor denen unsere erinnerungspolitische Landschaft steht, lässt ein allzu selbstgewisses Weiterstricken an bewährten Mustern nicht zu“, sagt Thomas Hertfelder, Geschäftsführer der Stuttgarter Theodor-Heuss-Haus-Stiftung, bei einer gemeinsamen Tagung mit der Landeszentrale für politische Bildung.

Auch wenn nur 18 Prozent von über 1000 Befragten zwischen 16 und 92 Jahren glauben, dass unter ihren Vorfahren Nationalsozialisten waren, sieht der Potsdamer Historiker Martin Sabrow den Erinnerungskonsens über das Wesen der NS-Diktatur nicht infrage gestellt. Bemerkenswert findet er hingegen die Tatsache, dass das Berliner Holocaustdenkmal vom Stigma zum Standortfaktor für die Touristenströme geworden ist und die Filmmusik zu „Schindlers Liste“ als Grundlage einer Eislaufchoreografie bei den Olympischen Spielen in Südkorea diente. Das Grauen nutze sich durch Kommerzialisierung und Banalisierung ab, so Sabrows Beobachtung. Allen im Ohr klingt der Satz des thüringischen AfD-Politikers Björn Höcke mit der Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Und dass das Wort Opfer auf den Schulhöfen mittlerweile als Schimpfwort gilt, trägt auch nicht zur Beruhigung der erinnerungspolitischen Akteure bei, wie Nicola Wenge vom Ulmer DZOK sagt. Und dennoch ist einer der Bezugspunkte des Gedenkens noch immer die Opfer deutscher Gewaltherrschaften. 93 Prozent der Deutschen halten die Erinnerung an diese Taten für die Hauptaufgabe des Gedenkens.