Sollen Personen mit Pflegegrad 1 künftig keine Leistungen mehr erhalten? Das kann nicht die Lösung sein, findet Kolumnistin Ursula Weidenfeld.
Die Misere der Pflegeversicherung fängt in der Pflegestufe 1 an. Die Kosten von fast zwei Milliarden Euro im Jahr sind vermutlich zwar zu hoch angesetzt, es nehmen nicht alle Berechtigten das ganze Leistungspaket in Anspruch. Doch, dass die Versicherung zu teuer geworden ist, ist unbestritten. Und dass man bei den „leichten“ Fällen am ehesten sparen kann, ebenfalls. Das Riesenproblem der Stufe 1 aber ist ein anderes: Zu viele Menschen beantragen sie, ohne sie wirklich zu brauchen. Denn die Stufe 1 hat sich seit ihrer Einführung im Jahr 2017 zur Eintrittskarte in die ganze Welt der Pflegeleistungen entwickelt. Wer fürchtet, demnächst oder in einigen Jahren möglicherweise mehr Hilfe zu brauchen, macht sich heute kränker als er ist. Denn ohne Einstufung sind die Aussichten miserabel, einen Dienst zu finden.
Private Pflegedienste haben genug zu tun
Wer je versucht hat, privat Hilfe bei einem Pflegedienst zu buchen, weiß: Bei einem ambulanten Anbietern braucht man in den meisten Fällen gar nicht erst anzurufen, wenn es keine Pflegestufe gibt. Die Dienste haben genug zu tun. Sie müssen sich nicht mit komplizierten Kunden belasten, die vielleicht nur kurz Hilfe benötigen und möglicherweise auch mal die Rechnung verschlampen.
Nur ein paar Wochen pflegebedürftig? Wer voraussichtlich weniger als ein halbes Jahr Hilfe braucht, ist in der Welt der Pflegeversicherung und im Kosmos der ambulanten Dienste ohnehin falsch. Chronisch ist besser, ist die ebenso entmutigende wie zynische Botschaft für Diabetikerinnen, kardiologisch Kranke, orthopädisch Eingeschränkte.
Beim Ausfüllen der Antragsformulare ist man gerne behilflich, der Hausarzt ist auch willig. Ein paar Tipps für den Besuch des medizinischen Dienstes sind selbstverständlich, damit das mit dem Pflegegrad 1 klappt.
Das Dilemma der jetzt berufenen Sozialreformer der Bundesregierung liegt auf der Hand: Die Überzahl der leicht Pflegebedürftigen treibt die Kosten der Versicherung. Auf der anderen, noch viel teureren Seite sorgen aber die heute rund 860 000 nur wenig eingeschränkten Kundinnen nicht wie erwartet für Entlastung. Die Annahme, dass frühe Hilfen in Bad und Haushalt dazu führen, dass Menschen länger gesund und zuhause bleiben, oder viel später ins Heim wechseln, war ein Trugschluss. Die Pflegerakete zündete an anderer Stelle. Eine stattliche Zahl etwas jüngerer Menschen mit Beeinträchtigungen, die vorher gar nicht auf die Idee gekommen wäre, einen Pflegedienst ins Haus kommen zu lassen, tut nun genau das.
Mit Pflegestufe 1 mehr Hilfe für spätere harte Fälle
Darf man den leicht Hilfs- und Pflegebedürftigen ein solches Verhalten vorwerfen? Nein. Denn jeder weiß inzwischen: Nur die erste Pflegestufe garantiert, dass später, wenn es wirklich nötig ist, schnelle Hilfe kommt. Die Mutter stürzt und bricht sich den Oberschenkelhals, die Schwester ist in der Sommerhitze umgekippt und kommt nicht mehr auf die Beine? Wenn man in einer akute Situation noch keine Nummer hat, hat man ein Problem. Die vier, sechs oder acht Wochen, bis der Hausbesuch zur Einstufung da war, die Bearbeitung des Antrags erfolgt und Leistungen bewilligt sind, muss man entweder überbrücken, oder man wechselt für die Kurzzeitrehabilitation ins Heim. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist das nicht nur eine enorme Belastung. Es ist auch gefährlich.
Die Lösung des Problems ist nicht allein das Kürzen bei der Pflegestufe eins. Die richtige Antwort wäre, die häusliche Pflege vom Kopf auf die Füße zu stellen. Statt die Menschen zu zwingen, vorzeitig pflegebedürftig zu werden, wäre es richtig, das System so zu öffnen, dass es schneller und zugänglicher wird. Dann muss sich niemand mehr vorsorglich in die Pflegestufe schmuggeln. Über die Kostenerstattung kann man später entscheiden. Auch eine solche Versicherung wäre am Ende vermutlich nicht viel preiswerter. Sie wäre aber effizienter und gerechter, und sie würde endlich Fehlsteuerungen vermeiden.