Diskussionen in der Familie Warum Kinder so gut verhandeln können
Eltern sind heute mehr an der Meinung ihrer Kinder interessiert als früher. Aber nicht in jeder Diskussion geht es nur um die besten Argumente
Eltern sind heute mehr an der Meinung ihrer Kinder interessiert als früher. Aber nicht in jeder Diskussion geht es nur um die besten Argumente
Letzten Sommer im Freibad. Diskussion mit dem Vierjährigen. „Kann ich ein Eis haben?“ – „Du hattest heute Mittag zu Hause schon ein Eis.“ – „Ach bitte, aber Elias darf auch eines.“ – „Aber du wolltest dein Eis heute schon zu Hause essen.“ – „Wenn ich kein Eis bekomme, werde ich wütend.“ – „Ich kann verstehen, dass du gern noch ein Eis hättest. Aber ich kaufe dir jetzt trotzdem keins.“ „Dann nehme ich mir das Geld einfach selbst.“ – „Nein, das Geld gehört mir.“ – „Du bist eine blöde Mama.“ Mama schaut enttäuscht. Der Sohn ändert seine Strategie und kommt kuscheln. „Du bist die beste Mama der Welt.“ Kurze Friedenspause. „Können wir jetzt ein Eis kaufen?“
Kinder sind von klein auf höchst geschickt im Verhandeln. „Noch bevor sie sprechen können, zeigen sie körperlichen Widerstand, wenn sie etwas nicht verstehen oder eine andere Meinung haben“, sagt Sebastian Engelmann, Erziehungswissenschaftler an der PH Karlsruhe. Sie drehen sich weg, wenn man ihnen eine Windel anzieht. Weinen, wenn sie allein ins Bett gelegt werden.
Später kommen die Worte dazu, vor allem eins: Warum? Warum muss man eine Jacke anziehen, wenn es regnet? Warum seine Zähne putzen? Arbeiten? Das Handy nach einer halben Stunde weglegen? Und warum kann man nicht so viel Eis essen, wie man will?
„Kinder kennen sich in der Welt, in die sie hineingeboren werden, ja nicht aus. Und selbst wir Erwachsenen merken oft, dass wir gar keine gute Antwort darauf haben, warum wir etwas so machen wie wir es machen oder etwas verbieten“, sagt Sebastian Engelmann. Historisch betrachtet war es früher eher so, dass mit Kindern dann auch gar nicht groß diskutiert wurde. Das Machtverhältnis war klar: Die Erwachsenen haben das Sagen, die Kinder gehorchen aufgrund des Autoritätsverhältnisses – und nicht aufgrund der besseren Argumente.
„Inzwischen hat sich das Bild gewandelt, wie man mit Kindern umgeht. Man nimmt sie als Gesprächspartner ernst und weiß, dass man dadurch auch ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen stärkt“, sagt Sebastian Engelmann.
Hinzu kommt, dass viele Eltern ihren Kindern heute gern erklären wollen, warum sie dies oder jenes so oder so machen. „Das übernehmen die Kinder natürlich. In gewisser Weise lernen sie das Diskutieren mit Argumenten also auch von den Erwachsenen“, sagt die Pädagogin Birgit Ertl, die in Stuttgart eine Praxis für Menschlichkeit in Erziehung und Beziehung betreibt.
Trotzdem diskutiert es sich mit den meisten Kindern deutlich härter als mit vielen Erwachsenen. „Kinder haben noch nicht gelernt, wo ihre Grenzen sind“ sagt Sebastian Engelmann. Hinzu kommt, dass sie erst mit den Jahre lernen, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und dessen Position und Argumente einbeziehen zu können – ein entscheidender Punkt dabei, dass sich bei einer Verhandlung beide Parteien ernst genommen fühlen können.
Das kann bei Eltern bisweilen das Gefühl auslösen, dass ihre Argumente einfach nicht zum Kind durchdringen – dabei werden sie wohl gehört, können aber noch nicht so gut mit der eigenen Position abgewogen werden. Das wiederum verschafft Kindern auch diesen starken Glauben an den Erfolg ihres Anliegens. Oft hat man den Eindruck, bei einem „Nein“ geht es erst richtig los mit dem Verhandeln.
„Für Eltern ist es dann eine Gratwanderung, das Kind zwar ernst zu nehmen, gleichzeitig aber auch ihrer Verantwortung in der Erziehung gerecht zu werden und bei sich und seinen Werten zu bleiben“, sagt Birgit Ertl. Fehlen Zeit und Raum für ein ausführliches Gespräch, sei es immer legitim, dies auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. „Das verschafft Eltern auch die Möglichkeit, nochmals über ihre Position nachzudenken“, findet Birgit Ertl.
Und manche Themen können sich so auch ganz von allein erledigen, weil es dem Kind am Abend vielleicht gar nicht mehr so wichtig ist, zu verstehen, warum es kein zweites Eis bekommen hat.
„Ich beobachte, dass viele Eltern heute versuchen, möglichst alles mit rationalen Argumenten zu erklären. Es ist aber auch manchmal völlig okay, etwas aus dem Gefühl und der Erfahrung heraus einfach so zu machen, wie man es macht“, sagt Birgit Ertl. Dann könne man dem Kind zwar signalisieren, dass man seinen Wunsch verstehe – sich an der eigenen Haltung deswegen aber trotzdem nichts ändere. „Zum sozialen Lernen von Kindern gehört es nicht nur dazu, die eigene Meinung einbringen zu können. Sondern auch aushalten zu können, dass es manchmal trotzdem anders läuft“, findet Birgit Ertl.
Spätestens in der Schule, oft schon in der Kita, wird erwartet, dass Kinder in der Lage sind, vernünftig Argumente auszutauschen. „Das können sie aber nur, wenn man das zu Hause mit ihnen übt“, sagt Sebastian Engelmann. Für Eltern sei das enorm herausfordernd. „Gleichzeitig zeigt es aber auch, dass Kinder durchaus an unserer Meinung interessiert sind, sonst würden sie ja gar nicht erst ins Gespräche gehen“, findet Sebastian Engelmann.
Und es gibt noch einen weiteren Vorteil, den Eltern aus diesen Diskussionen ziehen können. „Wir können uns von dem, wie Kinder verhandeln, sehr viel abschauen“, sagt Ulrike Knauer, die unter anderem als Trainerin für Verhandlungspsychologie arbeitet. „Anders als viele Erwachsene haben Kinder überhaupt keine Angst davor, beim Verhandeln Fehler zu machen. Also testen sie einfach aus.“
Sie schmeißen sich auf den Boden, setzen sich charmant auf den Schoß oder helfen zuerst im Haushalt, betreiben Lobbyarbeit („Die Mama hat es aber erlaubt, Papa“), holen ihre Geschwister zu Hilfe. Kommen sie mit einer Strategie nicht weiter, können sie sehr variabel zur nächsten wechseln.
„Erwachsene sind da dagegen oft sehr eingefahren und können insbesondere in stressigen Situationen nur eine Strategie anwenden“, sagt Ulrike Knauer. So arbeiten sie dann in Gehaltsverhandlungen entweder nur mit Druck oder mit Nachgeben oder mit Ausweichen oder mit einem partnerschaftlichen Ansatz – statt je nach Gesprächsverlauf die Strategie auch mal anzupassen.
Hinzu kommt, dass Erwachsene dabei meist sehr nüchtern auf Zahlen, Daten und Fakten setzten. „Kinder dagegen werfen all ihre Emotionen hinein“, sagt Ulrike Knauer. Letztlich entscheide aber genau das über eine erfolgreiche Verhandlung, nämlich dass man positiv und persönlich in einer guten Beziehung stehe.
Vor allem wissen Kinder sehr genau, wer am Ende wirklich das Sagen hat – und verhandeln direkt mit dem Entscheider. Dass das in den meisten Fällen die Eltern sind, dürfen diese so gesehen auch als Kompliment betrachten.
Kommunikation auf Augenhöhe
Im übertragen Sinn bedeutet eine Kommunikation auf Augenhöhe, dass man sein Gegenüber ernst nimmt, gleichzeitig aber auch die eigenen Bedürfnisse und Gefühle äußert. Bei Gesprächen mit Kindern ist die Augenhöhe aber auch ganz wörtlich genommen wichtig: Denn allein schon durch ihre Körpergröße scheinen Erwachsene oft überlegen zu sein und von oben herab mit dem Kind zu sprechen. Um hier ein Gleichgewicht herzustellen, hilft es, bei Gesprächen mit kleineren Kindern in die Knie zu gehen – oder sich gemeinsam hinzusetzen.