Wo andere schunkeln, feiern und ausfallen, hat Claudia Bosch geforscht. Die Wissenschaftlerin hat ihre Doktorarbeit über den Wasen geschrieben – inklusive respekteinflößendem Selbstversuch und herrlich akademischem Duktus.
Stuttgart - Dem Cannstatter Wasen kann man sich auf mindestens zwei Arten nähern. Man kann Fünfe gerade sein lassen und testen, wie viele Maß es braucht, bis man die Fünf-Promille-Ziellinie überschritten hat. Man kann das Treiben in den Bierzelten aber auch als große Sozialstudie betrachten, als wissenschaftliches Experiment. Claudia Bosch hat sich für letzteres entschieden. Sie hat ihre Doktorarbeit über das Volksfest verfasst. Titel der Arbeit: „Fest und flüssig. Das Feiern im Festzelt als Cultural Performance.“
Die Dissertation hat sie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen vorgelegt, vor kurzem ist sie in Buchform erschienen. Doch wie in aller Welt kommt man auf die Idee, über das Volksfest zu promovieren? „Ich bin schon immer gerne privat auf den Wasen, habe mich gleichzeitig aber auch schon immer gefragt, wie es sein kann, dass Leute, die eigentlich ganz vernünftig sind, da hingehen, und dann nach zwei Stunden gar nicht mehr so vernünftig sind.“ Claudia Bosch suchte nach der Antwort auf die Frage: „Woher kommt dieses Weltumschlungenheitsgefühl? In der Eckkneipe passiert das nicht.“
Auf der Suche nach dem Weltumschlungenheitsgefühl
In ihrer Arbeit beschäftigt sich Bosch mit den Fragestellungen der „cultural studies“, historische Gesichtspunkte haben sie weniger interessiert. „Aus den Quellen wissen wir, wie viele Schausteller vor 150 Jahren da waren und wie der Platz organisiert war. Das sagt mir aber nichts darüber, wie die Leute früher gefeiert haben. Wir wissen heute, wie wir feiern, dieses Wissen geht aber auch einmal verloren, wenn man es nicht festhält.“
Eine Chronik des aktuellen Feierverhaltens
Bosch hat es sich in ihrer Dissertation zur Aufgabe gemacht, eine Art Chronik der aktuellen Feierrituale zu verfassen. Die Idee klingt, als wäre sie nach zwei Maß im Festzelt entstanden. Wendet der Doktorvater nicht direkt einen Alkoholtest an, wenn man ihm ein so feuchtfröhliches Promotionsthema vorschlägt? Bosch lächelt. „Bei den Tübinger empirischen Wissenschaftlern stehen die Türen ganz weit offen.“
Trotz der wissenschaftlichen Form, der unzähligen Fußnoten und der an manchen Stellen akademisch-sperrigen Sprache liest sich die Doktorarbeit flüssig. Der Kontrast zwischen dem förmlichen Duktus und dem sehr informellen Inhalt sorgt an vielen Stellen für Unterhaltung, etwa wenn sich Bosch mit dem kulinarischen Kern des Wasens, dem Göckele beschäftigt: „Doch selbst wenn vom Essen mit den Fingern bis hin zur Gewürzmischung des Geflügels sich über Jahrzehnte Kontinuitäten ausmachen lassen, wandelte sich der Sinngehalt. Göckele entsprechen heute keinem besonderen „Festschmaus“ mehr, sondern eher schlichter Hausmannskost und emotional aufgeladenem „Comfort Food““, heißt es etwa im Kapitel „Spiegelungen – performative Reflexivität“.
Bosch bringt den Wandel rund um den Wasen auf den Punkt
In den stärksten Stellen der Dissertation bringt Bosch den Wandel rund um den Wasen auf den Punkt, etwa wenn es um das seltsame Verkleidungsschauspiel in Bezug auf Dirndl und Lederhose geht. „Früher ging man in Jeans und T-Shirt auf das Volksfest, die alpine Mode gab es maximal bei der Bedienung, beim Wirt oder bei den Kapellen. Heute signalisieren Dirndl und Lederhose, dass man bereit ist, sich auf dieses Fest einzulassen, dass man zu einer Gemeinschaft gehört“, sagt Bosch.
Ein weiteres Merkmal der Veränderung: „Wenn man 1995 und 2015 miteinander vergleicht, ist das Fest viel pluraler geworden, es gibt mittlerweile dunkles Bier, Weizenbier im Krug, Champagner und so weiter, auch die Speisekarte ist viel stärker ausdifferenziert als früher“, hat Bosch herausgefunden. In ihrem Buch liest sich der Wandel vom Steinkrug zum Glaskrug dank Uniduktus so: „Die haptischen Qualitäten der Schwere und der Stabilität sowie das große Volumen blieben erhalten. Unverändert tatkräftig erfolgt das Anstoßen, dessen Kerngehalt – jenes symbolisierte Begrüßen, gegenseitige Bestätigen und Konstituieren der Gemeinschaft – vom Materialwandel des Trinkgefäßes nicht betroffen wurde.“ Darauf ein Prosit der Wissenschaftlichkeit.
Das Wasen-Ziel: wieder zum Kollektiv werden
Die plurale Gesellschaft von heute pilgere auf den Wasen mit dem Ziel, wieder zum Kollektiv zu werden. Dass an diesem Wunsch des gemeinsamen Feierns in bayerischer Verkleidung einige kräftig verdienen, stört Claudia Bosch nicht. „Ein Festzelt zu betreiben stellt keine Lizenz zum Gelddrucken dar, das ist hart verdientes Geld, wenn man bedenkt, welcher Aufwand da mittlerweile getrieben wird“, so Bosch. Dennoch oder gerade deshalb hat sich Bosch auch mit dem Bierverkauf beschäftigt und mit dem Zusammenhang zwischen dem „Prosit der Gemütlichkeit“ und dem Bierkonsum im Zelt. „Ein Musiker hat mir eine Playlist für einen Mittwochabend gezeigt, da war das Prosit 22 mal eingeplant. Damit in den Band-Pausen möglichst viel konsumiert wird, nehmen die Prosits zur Pause hin zu.“
Größter Kritikpunkt an Boschs Arbeit: die Wissenschaftlerin lebt seit 2002 mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in New Haven, Connecticut in den USA. Seit 2014 hat sie einen Lehrauftrag für Soziologie an der University of New Haven. Für den empirischen Teil der Arbeit interviewte sie zwar Probanden vor Ort, wie sie erklärt: „Im Tübinger Volksfestexpress auf dem Weg zum Wasen. Da waren alle noch nüchtern und keiner konnte vor mir wegrennen.“
Viele Aspekte ihrer Dissertation hat sie aber nicht in Feldforschung vor Ort erarbeitet, sondern zum Beispiel, indem sie in den USA stundenlang das Treiben bei Grandl im Festzelt über die Webcam studierte. „Ohne Ton, sonst hält man es nicht aus“, räumt Bosch ein. Trotz der Distanz bei der wissenschaftlichen Untersuchung des Wasens muss man alleine wegen dieses Fernstudiums den Gamshut ziehen: Wer sich solch einen Selbstversuch antut, meint es wirklich ernst.