Über Finnland ist ihm mit einem Rucksack die Flucht gelungen: Das Leben in Russland wurde für Alexey Prokaev, über viele Jahre Professor in Stuttgarts Partnerstadt Samara, zu gefährlich. Jetzt will er von Deutschland aus die Opposition gegen Putin stärken.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Alexey Prokaev kann’s nicht fassen, was er dieser Tage über Teodor Currentzis, den russisch-griechischen Chefdirigenten des SWR-Symphonieorchesters, las. In Baden-Baden darf der berühmte Musiker auftreten – doch er lehnt es ab, sich zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu äußern. „Der Meister schweigt – und dirigiert“, so lautete die Schlagzeile auf der Titelseite unserer Zeitung. Zornig schlägt der Putin-Kritiker und Dissident Prokaev mit der Hand auf den Tisch und protestiert mit lauter Stimme: „Schweigen darf man in dieser Zeit überhaupt nicht!“

 

Ein Entschuldigungsbrief gleich nach Kriegsbeginn

Der Kulturmanager und Autor Alexey Prokaev, viele Jahre Professor für Linguistik an der Universität in Stuttgarts Partnerstadt Samara, hat auch in Russland nicht geschwiegen, obwohl das dort sehr gefährlich ist. Wenige Tage nach Kriegsbeginn schrieb er nach Stuttgart einen eindrucksvollen Brief, den sein Freund, der Intendant Sebastian Weingarten, auf der Bühne des Renitenztheaters vorgelesen hat. „Ich entschuldige mich bei allen meinen Freunden auf der Welt für die Handlungen des russischen Präsidenten“, heißt es in dem Brief, „alle Bürger Russlands, außer den Beamten (sie tun es gezwungen), sind gegen den Krieg und verurteilen ihn.“ Als russischer Staatsbürger „schäme“ er sich für diesen Angriffskrieg und erklärte seine Solidarität mit der Ukraine, „unserem brüderlichen Volk“. Die gebildeten Bürger Russlands, schrieb Prokaev weiter, „bitten die ganze Welt um Vergebung für diese Tat und diesen Schock“.

An Flucht dachte der 52-Jährige noch nicht, als der Krieg begann. Er wollte stattdessen dazu beitragen, die Opposition im eigenen Land stärker zu machen. Doch die Lage verschlechterte sich immer weiter. Nach Putins Mobilmachung wuchs Prokaevs Angst davor, in den Krieg gegen die Ukraine ziehen zu müssen. Das Leben für ihn als Dissident wurde in seiner russischen Heimat immer gefährlicher.

Mit dem Rucksack gelang ihm die Flucht über Finnland

„Du musst fliehen“, schrieb ihm sein Stuttgarter Freund Sebastian Weingarten eindringlich. Die beiden kennen sich seit 2006, seit der Intendant des Renitenztheaters mit dem Projekt „grenzenlos – politisch satirisches theater in europa“ in Samara gastierte. War für Alexey Prokaev nun die Zeit gekommen, sein Land zu verlassen? Er dachte an seine 76-jährige Mutter, die in der Nähe von Samara lebt. Kann er sie allein zurücklassen? Wann könnte er zu ihr zurückkehren? Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Erst musste gewährleistet werden, dass sich Freunde um die Mutter kümmern. Dann ging alles sehr schnell. „Spontan“ beschloss er, mit dem Taxi an die finnische Grenze zu fahren. Nur einen Rucksack nahm er mit. Es gelang ihm tatsächlich, unter einem Vorwand die Grenze zu überqueren.

Nun also ist Deutschland seine „Zwischenstation“ geworden, wie er sagt. Nein, Asyl will er nicht beantragen, weil es möglichst bald zurück nach Russland gehen soll. Tief berührt ist Alexey Prokaev davon, wie „freundlich“ er in Stuttgart empfangen wurde. „Selbst in den Behörden waren sie sehr nett“, berichtet er. Hass auf Russen habe er bisher nicht gespürt. „Die Leute können gut unterscheiden, welche Russen für den Krieg sind und welche nicht“, sagt der 52-Jährige. Seine Aufgabe sieht er nun darin, die Opposition in der Heimat von außen zu unterstützen und sich in Deutschland dafür einzusetzen, dass der Krieg möglichst bald beendet wird, also den Druck auf Putin weiter zu verstärken. Niemand dürfe sich an das gewöhnen, was in der Ukraine geschieht.

„Um den Krieg zu beenden, müssen Waffen geliefert werden“

Unterstützt Prokaev die von der Ukraine geforderten Waffenlieferungen? Diese deutschen Waffen könnten seine russischen Landsleute töten. Seine Antwort ist klar: „Um den Krieg zu beenden, müssen Waffen geliefert werden.“ Viele russische Soldaten seien „dumm“, sagt er. Der Professor hofft, dass die Menschen umdenken, wenn die Zahl der Toten weiter steigt. Im Alltag seien seine Landsleute zunehmend betroffen vom Krieg. Seine Schwester arbeitet als Krankenschwester. In ihrer Klinik müssen immer mehr verletzte Soldaten behandelt werden, weshalb die Zivilbevölkerung oftmals keine Termine für notwendige Operationen erhält – es gibt keine freien Kapazitäten der Ärzte.

Die Wut auf Putin wächst, hat der 52-Jährige vor seiner Flucht festgestellt, auch wenn sich viele Landsleute aus Angst vor Verfolgung nicht in der Öffentlichkeit dazu äußern würden. Alexey Prokaev glaubt deshalb, dass sich Putins Regime nicht mehr lange halten kann. Wichtig ist ihm, dass die Brücken von Deutschland nach Russland nicht einreißen. Er lobt die Stadt Stuttgart, weil sie die Partnerschaft mit Samara nicht beendet, sondern auf Eis gelegt hat. Die deutsch-russische Freundschaft dürfe nicht enden, sie müsse nach dem Krieg neu gedeihen. Dafür will sich Prokaev einsetzen, der vor einigen Jahren den Film „Das Juwel“ über die Stuttgarter „Schwulenmutter“ Laura Halding-Hoppenheit von Rosa von Praunheim in Samara gezeigt hat – ein in dem queerfeindlichen Staat durchaus riskantes Unterfangen.

Prokaev sieht Parallelen zu Marlene Dietrich

In seiner Heimat hat Prokaev ein Buch über eine Persönlichkeit geschrieben, die ihn sehr beeindruckt: Seinen Landsleuten bringt er Marlene Dietrich näher. Unter den Nazis hat die Schauspielerin Deutschland verlassen. Von den USA aus unterstützte sie Flüchtlinge und emigrierende Künstler finanziell. Wie sein Idol Marlene Dietrich musste Prokaev die vertraute Umgebung verlassen und kämpft nun aus dem Ausland gegen einen Krieg.