Renningen/Ditzingen
Clytus Gottwald hat 80 Komponisten der Neuzeit zu Uraufführungen verholfen, ist eine internationale Koryphäe, Wissenschaftler und außerdem leidenschaftlicher Naturschützer in Malmsheim. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Ditzingen/Renningen - Kann dieser Mann schon 90 Jahre alt sein? Clytus Gottwalds Augen strahlen den Besucher in seinem Hirschlander Haus voller Lebensfreude an. Seine Gedanken sind messerscharf und präzise, jede Anekdote sitzt in seinen Erzählungen am richtigen Platz. Auf dem Schreibtisch liegen Noten eines Orchesterstücks von Gustav Mahler, es riecht nach Arbeit und Papierstapeln. „Das übertrage ich gerade und mache daraus ein Stück für Chöre“, sagt er, als sei es mit 90 Jahren das Selbstverständlichste der Welt.

 

Das Defilee an Gratulanten ist lang. Der SWR und der Bayerische Rundfunk etwa, ein ungarischer Komponist hat ihm zum Geburtstag extra ein Stück geschrieben. Und von seinem Notenverlag in Wien ist eine Sacher-Torte gekommen.

Eigentlich müsste Clytus Gottwald mindestens drei Leben haben, wenn man seine Biografie liest. Genialer Chordirigent, Komponist, Musikredakteur, Wissenschaftler, Botaniker, Naturschützer. „Ich frage mich heute manchmal selbst, wie ich das alles geschafft habe“, sagt der Mann mit den hellen Augen und dem weißen, etwas ungestümen Haar lächelnd.

Vielleicht verdeutlicht eine Geschichte sein Wirken am besten. „Auf jeder zweiten Beerdigung wird das Lied ‚Ich bin der Welt abhanden gekommen’ gesungen“, erzählt er. Das war ursprünglich ein Orchesterstück, Gottwald hat es für den Wiener Verlag Universal Edition zu Chorliteratur gemacht. Bis heute ist das ein absoluter Bestseller der Österreicher, die Sacher-Torte ist also hoch verdient.

Schon in der frühen Jugend in Schlesien war Gottwald von Musik begeistert. Sein Vater war Botaniker, doch der junge Clytus wollte unbedingt aufs Musikgymnasium gehen. „Jetzt musst du dich entscheiden“, hat der Vater ihm gesagt, „für die Naturwissenschaft oder für die Musik.“ Gottwald entschied sich für Letzteres, kam nach Frankfurt/Main auf ein Musikgymnasium, spielte passioniert Geige. Dann wurde seine Schule 1943, als er gerade mit dem Knabenchor auf Tournee war, durch einen Bombenangriff zerstört. Gottwald wurde zur Wehrmacht eingezogen.

So musste er nach Frankreich, geriet in US-Kriegsgefangenschaft, und musste in New Orleans Zuckerrohr ernten. „Für einen Musiker war das furchtbar“, erinnert er sich. 1946 kam er zurück nach Deutschland und wurde von zwei US-Offizieren gefragt: „Wollen Sie nicht zum Rundfunk?“ Er wollte – und wurde beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart angestellt. In Tübingen und Frankfurt studierte und promovierte Gottwald, wurde Kantor an der Paulskirche in Stuttgart und nahm Forschungsaufträge an, um historische Noten zu katalogisieren.

Kein langweiliges Leben, doch erst als Gottwald das Vokalensemble „Schola Cantorum“ gründete, nahm es richtig Fahrt auf. „Wir haben 1963 kurz nach dem Tod von Paul Hindemith seine Messe uraufgeführt“, erinnert sich Clytus Gottwald. Von diesem Tag an konnte er sich vor Anfragen kaum retten. „Meine Karriere war wie eine Rakete“, schmunzelt er in seinem gemütlichen Stoffsessel. Sein kleiner Chor traf den Zeitgeist – in den 60er-Jahren sollte auch die Musik revolutioniert werden, es gab eine riesige Nachfrage nach modernen Kompositionen. Denen verhalf seine Schola zum Durchbruch, und das international. Bis 1990 wurden 80 Werke uraufgeführt, Tourneen von New York bis Moskau gegeben. Noch heute treffen sich die Sänger, der SWR hat am Dienstag die schönsten Stücke noch einmal gespielt. Eine internationale Karriere, Gottwald wurde der Professorentitel ehrenhalber verliehen, das Bundesverdienstkreuz, der Kulturpreis des Landes und der für Europäische Kirchenmusik.

Auf eine Auszeichnung ist der 90-Jährige besonders stolz: die Goldene Ehrennadel des Naturschutzbundes. Denn der Nabu-Ortsgruppe Renningen gehört Gottwald seit ihrer Gründung an. Ein Wiesengrundstück in Malmsheim trägt sogar seinen Namen: Clytus-Wiese. „Das haben wir uns 1965 als Wochenenddomizil gekauft“, erzählt er. Später wurde es zu einem Biotop für seltene Pflanzen und Naturdenkmal. Malmsheim wurde zu seiner zweiten Heimat, über den Mühlberg hat Gottwald sogar ein Buch geschrieben. Auch hier alles mit Perfektion und vollem Einsatz. Dass auf der Malmsheimer Deponie jetzt ein Naturpark entstanden ist, war auch sein Verdienst. Gottwald ist Mäzen und Förderer der Nabu-Ortsgruppe, war bis ins hohe Alter aktiv und hat Kontakte in die hohe Politik vermittelt. Noch heute schwärmt der Renninger Vorsitzende Udo Schäfer: „Er ist für uns unglaublich wertvoll mit Rat und Tat.“

Bei all den Erzählungen über das große Schaffen gerät die Familie fast in den Hintergrund – seine Frau Ingeborg, die er 1958 geheiratet hat, die Adoptivtochter aus einem Korntaler Kinderheim. Zum Geburtstag kommt diese am heutigen Freitag, seine Gattin ist leider 2005 gestorben.

Doch Gottwalds Lebenswillen ist ungebrochen. Gerade erst hat er 17 Strauß-Lieder in Chormusik übertragen. „Danke für den Besuch“, sagt er zum Abschied. Man hätte ihm noch Stunden zuhören können.